Euripides schrieb seine Tragödie über die in Griechenland herumirrenden »Kinder des Herakles« vor fast 2500 Jahren als Propagandastück für die moralischeIntegrität der Athener Polis. Nach dem Tod ihres Vaters wer den die Herakleidae von König Eurytheus verbannt. Nun sind sie auf der Flucht vor den königlichen Schergen und auf der Suche nach einem sicheren Ort. Im Tempel des Zeus in Marathon hoffen sie, endlich bleiben zu können. Doch auch dort tauchen schon bald wieder feindliche Boten auf, melden Eurystheus den Aufent haltsort der Kinder und fordern die Athener zur Herausgabe der Flüchtlinge auf ...
Die Frage nach einem sicheren Ort scheint zeitlos – schon immer sind Menschen auf der Suche nach Heimat. Als gebe es eine tiefe Sehnsucht, die jeder in sich trägt – irgendwo ankommen zu wollen, einen Ort zu fin den, an dem die eigene Existenz nicht in Frage gestellt wird. Unter Aspekten von Verfolgung und Flucht liest sich diese Sehnsucht als existenzielle Not und in der Übertragung auf heutige Verhältnisse könnte aus dem antiken Stück von Euripides eine moderne Geschichte über Bleiberecht, Asylgesetzgebung und Menschen ent stehen, die eigentlich heimatlos als Flüchtlinge in ei nem fremden Land versuchen, heimisch zu werden, über die Moral [oder zeitgemäßer gesagt: die Politik] von potentiellen Gastländern, die Flüchtlinge aufnehmen oder Flüchtlingen die Einreise verweigern. Auch der König von Athen, zu dem Marathon damals gehörte, muss sich in Euripides' Geschichte entscheiden, ob er sich der Drohung von außen beugt und die Kinder ausliefert, oder ob er an seinen eigenen Prinzipien festhält und das Schutzrecht des Tempels notfalls militärisch ver teidigt.
Daneben sind Flucht und Grenzüberschreitung ebenso essentielle Zustände; wesentliche Situationen, in de nen sich Menschen aufhalten, denen sie sich nicht ent ziehen können oder aus denen sie sich herausarbeiten müssen. Wer bin ich? Und zu wem werde ich? Fragen nach der eigenen Identität stellen sich gern dann am dringendsten, wenn grundlegende Voraussetzungen für eine einfache Antwort in Frage gestellt sind.
Dort nur und erst dort, wo Grenzen gezogen werden oder seit jeher natürlich existieren, kann es auch zu Grenzüberschreitungen kommen. Auch Pubertäten sind Übergangsphasen, Grenzland. Die, die sich dort aufha l ten, sind nicht selten mit praktischer Begriffsklärung beschäftigt. Moral, Treue, Liebe; Krieg, Korruption, Weltfrieden und Gerechtigkeit – es geht um grundlegende Erfahrungen und grundlegende Werte. Dort, wo sich Defizite auftun, entstehen Fluchten, nach innen wie im Außen. Liebe wird da mitunter als Perspektivwechsel erlebt. Sie schreibt das Drama der Realität wie das im Traum. Verständnisgrenzen verschieben sich. Wer ver steht wen noch – die Jungen die Alten? Die Alten die Jungen? Müssen wir immer vernünftig sein oder emotio nal? Was können wir wissen? Was wollen wir nicht?
Border meint Grenze wie Grenzüberschreitung, Innen wie Außen. Wer über Staatsgrenzen flüchtet, bringt sich in Sicherheit. Im sicheren Exil geboren, bleibt die Flucht in eine mediale Phantasiewelt, ist dann Rückzug, Re sig nation vielleicht, gemeint auch: Widerstand; gegen das unzulängliche Gefühl eigener Zugehörigkeit. Die Flucht ist so oder so getragen von der existenziellen Hoffnung auf ein besseres Leben. Es entstehen Verbindungen, eine Moral, die untereinander unerschütterbar ist – letztlich eine Identität, die ohne Zweifel aus kommt und Menschen nicht aus, sondern einschließen kann. Auch den Zweifler, den Verzweifelten, der in seinem Rückzug schon allen offenen Blick auf die Welt um sich herum verloren hatte. Veränderungen setzen an Grenzen an und fordern Grenzüberschreitung. Wenn einer in der Beziehung zu anderen Menschen vor allem den möglichen Verlust erkennt, ist darin vielleicht schon die Tragik seines Lebens gefangen. Am Ende ist die Frage nicht mehr : Wer bin ich? Die eigentlich wichtige Frage wird sein: Was soll ich tun?