Öffentlichkeit ist für Künstler:innen ein Zustand, in den einzutauchen sie nicht nur gewohnt sind, sondern der ihnen auch eine gewisse Lust bereiten sollte. Folgt man dem Soziologen Richard Sennett, dann ist die Künstler:in spätestens seit dem 19. Jahrhundert zu einer öffentlichen Person geworden. In Verfall und Ende des öffentlichen Lebens erklärt Sennett dies damit, dass Künstler:innen – im Gegensatz zur normalen Bevölkerung – die »Ausstülpung persönlicher Ansichten und Gefühle« nicht zurückhalten könnten. Wer Kunst macht, kann nicht anders, als Kunst zu machen. Von dieser Idee des Genialen sind wir seit Beuys in einem Teilbereich der Künste abgerückt, in der Musik hält sie sich hartnäckig. Als Personen der Öffentlichkeit sind Tonkünstler:innen – und mit ihnen darstellende Künstler:innen – also auch in besonderem Maß in öffentliche Wahrnehmung eingebunden. Es lässt sich Tonkünstler:innen also eine notwendige wie intensive Beziehung zur Öffentlichkeit unterstellen, mit der auch ein besonderes Maß an Verflechtet-Sein einhergeht. Das Sprechen über Öffentlichkeitsarbeit ist vor diesem Hintergrund mehr als eine bloße Frage von Marketing.
Vortrag im Rahmen von Neustart Kultur, einer Veranstaltung des Deutschen Tonkünstlerverbandes (DTKV) in Kloster Banz, Oktober 2022
Dass der Jugendstrafvollzug ein Ort ist, an dem gewaltförmige Interaktionen an der Tagesordnung sind, steht außer Frage. Zudem übt die staatliche Macht an diesem Ort die ihr als legitim übertragene Gewalt aus, junge verurteilte Menschen für einen gewissen Zeitraum ihrer Freiheit zu berauben und damit ihre Handlungs- und Kommunikationsmöglichkeiten als Teil der Strafe massiv einzuschränken. Es ist also naheliegend, vom Jugendstrafvollzug als von einem Gewalt-Gefüge zu sprechen. Die Frage ist, inwieweit eine Analyse, die den Jugendstrafvollzug im Rückgriff auf das poststrukturalistische Konzept des ›agencement‹ als soziales Gefüge, also als einen beweglichen, kontextabhängigen Komplex mit einer räumlich-sozialen und einer zeitlichen Dimension in den Blick nimmt, zum Verständnis der dortigen Gewalt-Ereignisse beiträgt.
Vortrag in der Ad-hoc-Gruppe ›Ethnographien der Gewalt‹, 41.Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie »Polarisierte Welten«, Bielefeld, September 2022.
Interview mit Willi Wibergs deutscher Verlegerin Silke Weitendorf
Mit »Gute Nacht, Alfons Åberg« erschien 1972 in Schweden die erste Geschichte eines kleinen Jungen, der anders war als die anderen. Seine Erfinderin, die schwedische Journalistin Gunilla Bergström (1942-2021), stellte sich vor, wie er mit seinem Vater in eine neue Wohnung zieht, in ein hohes Haus, in eine fremde Stadt. Wie alle Kinder kann (oder will) er abends nicht einschlafen, braucht einen Freund zum Spielen oder weiß nicht recht, was auf ihn zukommt, wenn er das erste Mal in die Schule geht. Im INterview erzählt die Hamburger Verlegerin Silke Weitendorf, wie ihr Alfons das erste Mal begegnete und wie aus ihm im deutschsprachigen Raum Willi Wiberg wurde.
Frauenboxen in Zeiten von Corona
Boxen als Metapher für das Leben? Eher, so die amerikanische Schriftstellerin Joyce Carol Oates in ihrem Essay Über Boxen, könne sie sich das Leben als Metapher für das Boxen vorstellen: »...für einen dieser Kämpfe, die nicht enden wollen.« Kein Ende sieht im Lockdown auch Profiboxerin Maria Lindberg. Pandemiebedingt wurden und werden 2020 alle bislang geplanten Kämpfe abgesagt – auch ein Kampf.
Auszug aus dem Weißen Haus
Es ist noch vor acht Uhr – morgens! Der 20. Januar 2021. Lange hält die Kamera auf das Weiße Haus in Washington. Ein Reporter nimmt vorweg, was in den nächsten Minuten passieren wird. Donald Trump werde aus der Villa aller amerikanischen Präsidenten treten (ist das, was wir da sehen, eigentlich der Hinterausgang? Und wer sind die Handvoll Menschen, die an dieser nicht wirklich ernst zu nehmenden Absperrung ausharren?), er werde über ein Stück Rasen laufen, neben sich – anzunehmen – seine Frau Melania (oder wird sie unbeobachtet doch den Vorderausgang nehmen?).
Die Kunst der Hygiene
Die Kunst der Hygiene hat Hochkonjunktur. Und Grafiker aller Länder bemühen sich, mit bildnerischen Mitteln bei der Aufklärung zu assistieren, damit auch dort, wo Menschen des Lesens unkundig sind, die notwendigen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie gut verständlich unters Volk gebracht werden. Kunst und Medizin, die heute ob vermeintlich unterschiedlicher Forschungsansätze gern feinsäuberlich voneinander getrennt werden (experimentell offenen die Kunst, ergebnisorientiert die Medizin), arbeiten aktuell Hand in Hand. In der Antike, aus der das Wort Hygiene stammt, war die Trennung von Kunst und Medizin ohnehin nicht wichtig; beides waren (und sind es bis heute) Forschungsgebiete mit Laboratorium. Die so entwickelte »Kunst der Hygiene«, die sich aus den beiden griechischen Wörtern ὑγιεινή (Hygieinḗ, Gesundheit) und τέχνη (téchnē, Technik i. S. einer Kunst) ableitete, weist bis heute auf die Verbindung der Disziplinen hin.
Frau Königin wohnt in einem Hochhaus am Rand der Stadt und ist verunsichert. Warum darf sie nicht mehr bei Edeka einkaufen? Wovon spricht ihr Nachbar, Herr Meier, wenn er im Fahrstuhl beschwörend ausruft: »Wenn das mal gut geht!«? Und was meint der Kioskbesitzer an der Ecke, der dauernd von »Vorschriften« spricht? Eine Geschichte nicht nur für Kinder – über Beziehungen und Routinen in Veränderung.
Korogocho heißt in Suaheli, der kenianischen Landessprache, »Chaos« oder »Abfall«. Etwa 300.000 Menschen leben in diesem Slum neben, auf und von dem Müll, den die 3,5-Mio-Metropole Nairobi hier ablädt – jeden Tag rund 2000 Tonnen. Eine apokalyptisch anmutende Szenerie, in der Menschen im Qualm schwelender Feuer den Müll nach Recyclebarem durchsuchen, begleitet vom Geschrei aasfressender Vögel. Und am Rand der Halde spielen junge Musikerinnen und Musiker klassische Musik ...
agoRadio-Produktion: Benjamin Sprick, Oktober 2018
Im Jahr 1994 versank das afrikanische Land Ruanda im Wahn des Völkermords und schuf damit die Unglaublichkeit eines Ausnahmezustands, der ein ganzes Volk traumatisierte. Über eine Million Tutsi und gemäßigte Hutu wurden getötet. 20 Jahre nach dem Genozid versuchen die Menschen noch immer das scheinbar Unmögliche: sich zu versöhnen. Viele Frauen unter den Überlebenden blicken lieber in die Zukunft als zurück.
Erschienen in: Neues Deutschland
Betroffene Laiendarsteller im professionellen Theaterbetrieb – eine Praxis, die Regisseur Volker Lösch perfektioniert hat. Er lässt türkischstämmige Frauen in der Medea mitmachen oder einen Bürgerchor im Woyzeck. In Hamburg hatte er 2008 einen Sprechchor aus Frührentnern, Arbeitslosen und Hartz-4-Empfängern für das Stück »Marat, was ist aus unserer Revolution geworden?« am Schauspielhaus gecastet. Zwei Spielzeiten stand Anke K im Rampenlicht. Dann ging es zurück in die Armut.
Erschienen in: Die Deutsche Bühne
Kurz vor Mitternacht spielt das Orchestra da Camera Poliziana zum Abschluss Haydns Kinder-Sinfonie No. 47. Irgendwo im Publikum in der Chiesa del Gesù sitzt Detlev Glanert. Als künstlerischer Leiter des Cantiere Internazionale d'Arte di Montepulciano wird der Komponist aus Berlin in den nächsten Tagen über 50 Konzerte besuchen. Aber der Autritt der jungen Musiker aus Montepulciano ist für ihn etwas Besonderes.
Erschienen in: nmz – neue musik zeitung
Mediziner verstehen Brustkrebs als Entgleisung. Eine Zelle fängt an, wild zu wachsen. Es kann Jahre dauern, bis die Entgleisung zu fühlen ist. Oft ist der Krebs dann schon über die Blutgefäße in anderen Organen angekommen, hat Lymphknoten befallen, Leber oder Lunge. Operation, Chemotherapie, Bestrahlung – Brustkrebs macht in Deutschland jedes Jahr rund 58.000 Frauen zu Patientinnen einer medizinischen Institution. In seiner Unberechenbarkeit ist er auch ein Angriff auf ihre Autonomie.
Die Luft ist feucht und durchzogen von leichtem Modergeruch. Letzte Sonnenstrahlen fallen an diesem späten Herbsttag durch die Kronen eines kleinen Buchenwäldchens. »Genau die richtige Atmosphäre, um nach Trüffeln zu suchen«, sagt Esther Bieri. Für's Finden der Pilze ist Hector zuständig. Und der graugelockte Lagotto Romagnolo scheint das auch zu wissen.
Erschienen in: alps
Mose teilte das Wasser des Roten Meeres und empfing von Gott zehn Gebote. Frau V. regelte auf einer vielbefahrenen Kreuzung den Verkehr und bekam von Gott den Generalschlüssel für die Welt. Mose wurde berühmt. Frau V. wurde abgeführt und kam in die geschlossene Abteilung der Psychiatrischen Klinik. Zwischen den beiden gibt es trotz ihrer übereinstimmenden Behauptung, Gott begegnet zu sein, einen Unterschied. Mose glaubte man. Frau V. hielt man für verrückt.
Auf den schwarzen Dielen der Bühne im Hamburger Hospital Zum Heiligen Geist stehen 20 Kinder mit Geigen und Celli. Einige von ihnen treten heute das erste Mal auf, andere spielen das erste Mal überhaupt mit in dem kleinen Orchester. Wie Marie. Sie ist zehn und hat bislang nur für sich und zu Hause geübt. Sie macht die Probe mit, kann die Cellostimme aber noch nicht auswendig. Beim nächsten Auftritt will sie mitspielen, dann ohne Noten, wie die anderen Coolen Streicher auch ...
Erschienen in: Hamburger Abendblatt
Immer mehr deutsche Soldaten kehren traumatisiert aus Auslandseinsätzen zurück. Viele finden hier weder gesellschaftliche Anerkennung noch eine angemessene medizinische und soziale Betreuung. Immer mehr Familien müssen mit Söhnen und Töchtern, Ehepartnern oder Vätern umgehen, die den Krieg nicht hinter sich lassen können. Zusammen mit der Autorin Stephanie Schiller erzählt Marita Scholz vom schwierigen, manchmal fast unmöglichen Leben mit einem Kriegsheimkehrer.
Erschienen im Herder-Verlag
Grundlage des Theaterstücks sind die ›Denktagebücher‹ der Philosophin Hannah Arendt (1906–1975), ihr ›Denkatelier‹, das offene und im Prozess befindliche Verstehen-Wollen. Die über zwanzig Jahre kontinuierlich geführten ›Denktagebücher‹, der fortgesetzte Denkprozess, wird in seiner Form des Fragments zu einem Atelier für das Theater.
Uraufführung: Goethe-Universität Frankfurt am Main
Border meint Grenze wie Grenzüberschreitung, Innen wie Außen. Im sicheren Exil geboren, bleibt die Flucht in eine mediale Phantasiewelt, Widerstand gegen das unzulängliche Gefühl eigener Zugehörigkeit. Die Flucht ist getragen von der existenziellen Hoffnung auf ein besseres Leben. Veränderungen setzen an Grenzen an und fordern Grenzüberschreitung. Am Ende ist die Frage nicht mehr : Wer bin ich? Die eigentlich wichtige Frage wird sein: Was soll ich tun?
Uraufführung: Kinderoper Köln
Warum eine ins Kloster geht? Dem Heiligen Benedikt sei ja die ganze Welt in einem Lichtstrahl erschienen, sagt Schwester Maria, während sie im Rosenbeet vor dem Haus St. Joseph steht und mit der Harke den Boden zwischen den Pflanzen auflockert. Von einer Klosterschwester hätte sie so eine Geschichte allerdings noch nicht gehört. Schwester Maria war vierzehn, als sie das erste Mal nach St. Alban kam. Sie litt, hatte Heimweh, wollte an Weihnachten unbedingt nach Hause fahren ...
Tempelhof gilt als »die Mutter aller Flughäfen«, war schon in den 20er Jahren das erste Luftdrehkreuz der Welt. Seit der Luftbrücke, über die die Allierten Streitkräfte die Berliner Bevölkerung nach dem Krieg mit Lebensmitteln versorgten, ist der Flughafen ein Symbol der Freiheit. Nach 85 Jahren gehen dort jetzt die Lichter aus. Ein Nachruf...
Erschienen in: bella