Leere Konzertsäle kurz vor dem Auftritt haben eine eigene Stimmung, die konzentrierte Atmosphäre von Arbeit, eine Ahnung davon, was möglich ist, Anspannung. Auf den schwarzen Dielen der Bühne im Hamburger Hospital zum Heiligen Geist stehen 20 Kinder mit Geigen und Celli. Rechts ganz kleine wie Astrid mit ihren Viertelgeigen, links die älteren wie Verena, die 19 ist und gerade in Musik Abitur gemacht hat. Einige Kinder stehen heute das erste Mal auf einer Bühne, andere spielen das erste Mal überhaupt in dem kleinen Orchester. Marie ist zehn und hat drei Jahre lang nur für sich und zu Hause geübt. Sie macht die Probe mit, kann die Cellostimme aber noch nicht auswendig, in zwei Tagen gibt es den nächsten Auftritt, bis dahin will sie ohne Noten spielen können wie die anderen auch – und mit den Coolen Streichern auftreten.
Nur jedes dritte Kind in Deutschland lernt ein Instrument, unter den Hauptschülern jedes zehnte, in der Waldorfschule jedes zweite Kind. Klavier, Geige oder Cello spielen – ein Privileg. Was die musikalische Bildung angeht, herrschen hierzulande Mangel und Überfluss gleichermaßen. Ob einer ein Instrument lernt oder nicht, hängt noch immer vom engagement der Eltern ab und vor allem von deren finanzieller Situation. Kita-Betreuerinnen klagen über die unzureichende Musikausbildung, Regelschulen streichen, wenn gestrichen werden muss, in der Regel als Erstes am Musikunterricht. Leila, Swetlana und Anabela haben sich mit ihren Geigen in die geschwungene Einbuchtung des Flügels gestellt, als suchten sie Halt. Auch die drei Mädchen sind neue Coole Streicher. Ihre Familien stammen aus der Türkei, der Ukraine und Kosovo-Albanien. Die Mädchen gehen zusammen in die Klasse 6 des Friedrich-Ebert-Gymnasiums in dem Hamnburger Stadtteil Heimfeld.
Einsatz! Jemand hängt. Angelika Bachmann läuft vor der Bühne hin und her, stupst jedem mit ihrem Geigenbogen in die Seite, der allzu ernst dreinschaut. Sie sagt: »Je mehr du aus dem Takt kommst, umso fröhlicher musst du gucken!« Anabela lächelt. Angelika Bachmann war drei, als sie sich in den Kopf setzte, sie will Geige lernen. Keiner weiß, woher. Ein Jahr später bekommt sie das ersehnte Instrument. Als sie dem russischen Professor, der Mitte der 70er Jahre an der Jugendmusikschule Hamburg unterrichtet, vorspielt, erkennt er ihr Talent und sagt: »Das Kind muss jeden Tag üben!« In den Ohren der Mutter mag das nach Karriere und Erfolg geklungen haben, einem zweiten, besseren Leben vielleicht, auch wenn es eigentlich nicht das eigene ist. Die Tochter wird vom Unterricht in der Grundschule wegen Hochbegabung befreit; dafür übt sie neun zehn Stunden am Tag. Die Dissonanz zwischen dem, was ein Kind gern möchte, und dem, was Erwachsene daraus machen, hört am Ende nur das Kind. Nicht gleich, erst später, so zwischen 16 und 20, wenn sowieso vieles in einem zur lärmenden Katastrophe gerät. Sie gewinnt mit fünf ihren ersten Preis, spielt Violinkonzerte in Sälen und bei Wettbewerben. Auf Fotos sieht man sie mit ihrer Geige unter dem Kinn. Sie strahlt. Im Juni 2010, nach einer Probe für das neue Programm ihres Quartetts Salut Salon wird sie auf die Bemerkung »Wenigstens kannst du was« erwiedern: »Um welchen Preis!«
»Spiele ich richtig, nicht zu hoch, nicht zu tief?« Manchmal kann sie es an der anfänglich geduckten Haltung der Kinder sehen – »Jetzt bin ich wieder zu doof für alles, und die anderen sind viel besser...« Bis sie merken, da ist eine, die ihnen hilft. »Im Grunde will jedes Kind wissen, bin ich auch ein bisschen okay?« sagt Angelika Bachmann. Wenn sie Kinder einzeln vorspielen lässt, dann nicht wegen der Töne. »Mir geht's nie um irgendwelche drei Töne«, sagt sie. Es geht nicht um richtig und falsch. »Wenn du als Kind spürst, dass du okay bist, kannst du dir dein ganzes Leben jedes Wellnesscenter sparen. Dann interessierst du dich für dich und die Welt und das, was wirklich passiert.« Sie hatte die Frage auch als Kind – Hochbegabung hin oder her.
Ob ein Mensch mit absolutem Gehört auch besser sieht – die Verhältnisse, die Not der anderen und wie was zusammenhängt? Die Coolen Streicher klingen anders. Wenn man die Kinder fragt, warum, sprechen sie ziemlich unisono. Es liege am Auswendigspielen, ohne die wackligen Notenständer, die immer Gefahr laufen umzufallen, so klebt man mit den Augen nicht an den Noten, schaut sich gegenseitig an, was auch notwendig ist, weil sie ja ohne Dirigenten spielen und sich die Einsätze selbst geben. Cool ist, dass in diesem Orchester Kleine und Große spielen, und es egal ist,, ob einer nur zupft oder virtuose Zweiunddreißigstelläufe spielt. Und dass die Großen den Kleinen helfen. Ein Kinderorchester.
Mit zehn setzt sich Angelika gegen die Mutter durch und darf doch zur Schule. Endlich andere Kinder! Dafür muss sie vor der Schule drei Stunden und nach der Schule weiterüben. Sie nimmt auch in Kauf, erst einmal Außenseiterin zu sein. Am ersten Pult der ersten Geigen im Schülerorchester lernt sie die gleichaltrige Iris Siegfried kennen. Die wird ihre beste Freundin und ist es bis heute. Wer auch immer welche Rolle übernimmt – die Freundschaft ist so intenisiv-produktiv, weil mal die eine Visionärin ist, mal die andere Bedenkenträgerin. Diejenige setzt sich durch, die etwas am meisten will. In Interviews sagen bbeide gern: »Wir haben unser Leben vergeigt.« Ein sicherer Lacher. Dabei meint Angelika Bachmann das ernst. Wäre es morgen vorbei, dann wäre das nicht weiter schlimm. »Alles, was ich machen wollte, habe ich gemacht«, sagt sie. »Ich bin quitt mit dem Leben.« Und auf die Frage, ob die Kunst etwas ändern könnte: »Was sonst, wenn nicht die Kunst.«
Als Angelika und Iris mit 14 selbst Geigenunterricht geben, um ihr Taschengeld aufzubessern, machen sie es anders. Beide wissen, wie das ist, auf Wettbewerben von einer Jury unverständliche irgendetwas Komma zwei Punkte für einen Mozart zu bekommen. Angelika macht gern Straßenmusik, was verboten ist, »weil es die Technik versaut«, aber manchmal steht sie doch in den Alsterarkaden... Iris und sie sind überzeugt, vorspielen geht auch ohne Druck. In einer Eppendorfer Wohnung organisieren sie einmal im Monat einen Jour Fixe, an dem musiziert wird, am Ende spielen alle immer noch ein Stück zusammen, jheder bekommt eine Stimme, die genau zu ihm passt. Irgendwann treten die Kinder in der Öffentlichkeit unter einem Namen auf, der zu ihrer Spielfreude passt: Coole Streicher. Und dann haben sie Preise gewonnen, mehrfach den Hamburger Instrumentalwettbewerb, 2004 den inventi für das innovativste Musikprojekt Deutschlands. 2007 veröffentlicht Angelika Bachmann bei Breitkopf & Härtel »Flexible Strings«, Arrangements, mit denen bis zu 15 Streicher unterschiedlichen Niveaus – wie bie den Cooolen Streichern – zusammenspielen können.
Es ist nach Mitternacht, als Angelika und Iris ihre Geigen noch einmal schultern, Sonja ihr Cello nimmt und Anne sich ans Klavier setzt. Jour Fixe in der Eppendorfer Wohnung, in der vor mehr als 20 Jahren alles begann, Hausmusik, Freunde kommen, die Nachbarn sind eingeladen, weil es laut wird und lang Iris singt, weil keiner so recht nach Hause will, noch einmal »Ich spiele leidenschaftliche gerne zweite Geige«. Salut Salon touren seit zehn Jahren erfolgreich durch eutschland, gastieren in Europ, Russland, Vhina, Sei arrangieren klassische Stücke neu, spielen Filmmusik, greifen zu artistischen Einalden und manchmal daneben – egal, das richtet die Virtuosität. Das Niveau stimmt, das Zuhören macht Spaß, überraschend stellt man fest, dass Qualität keine Frage von U oder E ist, auch nicht des Ortes – die Qualtiät liegt in der Haltung. Ihre Ausgangsidee werden Angelika Bachmann und Iris Siegfried eben nicht los, die Widersprüche nicht und auch nicht die Brüche, die ein Leben ausmachen.
Zu Konzerten von Salut Salon nimmt man gern Gäste mit, die sonst nicht ins Konzert gehen und die hinterher sagen, war gar nicht schlimm. »Wie beim Zahnarzt«, sagt Angelika Bachmann. Sie lacht, Iris auch. In der Pause zwischen den Programmteilen schlüpfen sie von einem kleinen Schwarzen in das andere, kommen zurück auf die Bühne, manchmal holen sie ihr Kinderorchester dazu. Dann wird noch für Chile gespielt. Salut Salon und die Coolen Streicher sammeln seit fünf Jahren Geld für die Escuela Popular des Artes in Achupallas. »Das Gute an der Musik ist«, sagt Angelika Bachmann, »dass sie eine so unglaublich große Dimension hat, weil sie so vielsinnig wahregenommen wird und man sich ihren Emotionen gar nicht entziehen kann.« Sie weiß, dass Kinder, die Musik machen diese innere Schönheit erreichen können. Wenn einen etwas tief berührt, dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass es auch andere berührt. Mann kann daerin traurig sein oder lachen, sich erinnern wollen oder anders leben. So tief berührt sein, wie von Liebe.
In dem großen Zelt neben der Stahlhalle des Hambzrger Cruise Centers warten 400 Kinder in weißen T-Shirts mit der Aufschrift The Young ClassX auf ihren Auftritt. Vom nahen Kai fahren Schiffe in die ganze Welt. Auf einem Monitor im Zelt ist zu sehen, was auf der Bühne nebenan vor sich geht. Das Jugendsinfonie-Orchester spielt. gleich swingt ein Chor. Durchlaufprobe. Für ihr neues Projekt The Young ClassX haben Angelika Bachmann und Iris Siegfried Michael Otto von der otto group gewonnen, der die Finanzierung für einige Jahre mit einer sechsstelligen Summe sichert: Chorarbeit an Schulen, Instrumentalunterricht, Konzertbesuche – alles kostenlos. Angelika Bachmann sagt: »Wenn möglichst viele Kinder über die Musik einen Zugang zu sich selbst bekommen, dann macht das die Welt ein Stückchen besser.« Mittlerweile singen 1300 Kinder in Chören, viele mehr schon als früher spielen Geige, Flöte, Trompete. Musik verändert die Welt, weil Musik die Menschen verändert.
Warum kann Musik nicht zum Alltag gehören, warum singen Eltern nicht einfach mit ihren Kindern, warum müssen alle immer gleich hochbegabt sein? »Kinder sind verschieden«, sagt Angelika Bachmann, »wer sich womit später hervortut, das wird sich zeigen. Die Kinder, die jetzt im Chor singen, werden ja nicht alle Sänger, aber sie werden ihr Leben lang Melodien haben, die sie noch mit 70 singen können, wenn alle ihre Freunde gestorben sind oder ihr Mann Krebs hat.« Musik sei eine innere Kathedrale. Das heilige Gefühl bleibt für immer.
Nach dem Abitur war Angelika Bachmann klar, dass sie keine Solistin wird. Sie braucht die Menschen, die Arbeit mit den Kindern, will nicht in Konzertsälen vereinsamen. Sie wollte begreifen, »was die Welt im Inneren zusammenhält«. Und wo sich die Fragen über die Musik nicht klären ließen, wandte sie sich der Philosophie zu. Am Ende ihres Studiums mjusste sie feststellen, dass das mit der Ungerechtigkeit in der Welt selbst veranlagt ist, ließ Fragen zur Moral und schrieb ihre Abschlussarbeit über Logik. Sie hält »das alles hier auf Erden noch immer für eine grobe Fahrlässigkeit«. Sich bestimmte Fragen nicht mehr zu stellen, ist Ausdruck einer Ambivalenz, die eben nicht in die Oberflächlichkeit führen muss, sondern den Bruch mitunter eingeht, zur eigenen Gesundung. Mit dem Grübeln auf hören können, weil Grübeln nur verzweifeln macht. Angelika Bachmann sagt: »Seit ich mit 21 beschlossen habe, mir über den Sinn der Welt keine Gedanken mehr zu machen, bin ich ein fröhlicher Mensch.« Welt machen als soziale Situation, als Situation zwischen Menschen also, verbindet sich am Ende wieder mit der Musik. Die Arbeit macht mikrokosmisch gesehen Sinn.
Auch wer nur klatscht, könnte anschließend sein Leben verändern. »Weitergehen«, sagt Angelika Bachmann, »ist nicht nur für eine Musikerin wichtig.« In Bewegung sein, das mache überhaupt Persönlichkeiten aus, man muss ein fragender Mensch bleiben. Sie lacht. Wäre Iris da, sie würde mitlachen. Und für einen Moment wäre der Zwiespalt spürbar. Das zu viele Üben, das die Kindheit prägte, und das Glück, gerade deshalb heute etwas zu können, das einen trägt. Und Angelika wäre vielleicht für einen Moment die Visionärin, die sagt: »Noch einmal Kind sein? Dann aber auch mit Fußball und Schokolade!«