Dass der Jugendstrafvollzug ein Ort ist, an dem gewaltförmige Interaktionen an der Tagesordnung sind, steht außer Frage. Zudem übt die staatliche Macht an diesem Ort die ihr als legitim übertragene Gewalt aus, junge verurteilte Menschen für einen gewissen Zeitraum ihrer Freiheit zu berauben und damit ihre Handlungs- und Kommunikationsmöglichkeiten als Teil der Strafe massiv einzuschränken. Es ist also naheliegend, vom Jugendstrafvollzug als von einem Gewalt-Gefüge zu sprechen. Die Frage ist, inwieweit eine Analyse, die den Jugendstrafvollzug im Rückgriff auf das poststrukturalistische Konzept des ›agencement‹ als soziales Gefüge, also als einen beweglichen, kontextabhängigen Komplex mit einer räumlich-sozialen und einer zeitlichen Dimension in den Blick nimmt, zum Verständnis der dortigen Gewalt-Ereignisse beiträgt.
›Agencement‹ bedeutet im Alltagsfranzösisch so viel wie Einrichtung, Anordnung, Aufstellung oder Arrangement und wird hauptsächlich im handwerklichen Bereich verwendet. Gilles Deleuze und Félix Guattari haben dieses Konzept u.a. in ihrem gemeinsamen Buch Tausend Plateaus [1] beschrieben. So sehr sich der Begriff gegen eine eindeutige inhaltliche Definition sträubt, so vielfältig waren von Anfang an die Schwierigkeiten, ihn in andere Sprachen zu übersetzen. In ›Tausend Plateaus‹ haben sich die Herausgeber dafür entschieden, ›agencement‹ durchgängig mit ›Gefüge‹ zu übersetzen. Eine weit verbreitete andere Begrifflichkeit ist der englische Terminus ›assemblage‹.
Wer sich der 105 Hektar großen Insel Hahnöfersand – in der Elbe flussabwärts vor Hamburg gelegen – nähert, erlebt zunächst die Offenheit einer vom Obstanbau geprägten Kulturlandschaft, die zum Horizont hin weit ausläuft. Die Häuser liegen tief und lassen viel Platz zum Himmel. Doch die Idylle erweist sich als trügerisch. Spätestens, wenn sich hinter dem Inhaftierten das zweite Eisentor der Schleuse am Eingang des Gefängnisses schließt, verliert jede romantisierende Landschaftsbetrachtung an Bedeutung. Zumal für einen jungen Menschen, der zum Aufenthalt an diesem Ort verurteilt wurde und damit den Verlust seiner gewohnten Alltagsordnung erlebt. An diesem Ort gewinnen sozial-räumliche Aspekte wie Mangel und Enge, die zwar keine genuin strafvollzuglichen Erfindungen sind, für die Inhaftierten an besonderer Relevanz. Die Verknappung an Raum und Möglichkeiten zwingt den Inhaftierten in ein erzieherisch ausgerichtetes Transformations-Gefüge. Oder mit den Worten eines Inhaftierten: »Wir sind hier im Gefängnis. Das ist kein Wunschkonzert!«
Die Inhaftierten leben nach einer Mängelliste, die der US-amerikanische Soziologe Gresham M. Sykes schon in den 50er Jahren aufstellte.[2] Zum Freiheits- und Autonomieverlust kommen der Abbruch gewohnter sozialer Kontakte, eine erschwerte Kommunikation, begrenzte Bewegungsfreiheit, eingeschränkte Handlungs- und Entscheidungsoptionen und ein schmerzlich zurückgefahrener Konsum [3]. Die soziale wie materielle Ressourcenknappheit in der Binnenwelt der Inhaftierten führt zwangsläufig zu Verteilungskämpfen. Diese äußern sich in der »Wegnahme von Einkauf«, in teils extremen Verschuldungsprozessen durch horrende Zinsen auf geliehenen Tabak oder Pokerschulden, und in festen Unterdrückungs-Beziehungen, in denen vor allem »nicht durchsetzungsstarke« Inhaftierte gewaltsam genötigt werden, für andere unterschiedliche Dienstleistungen zu verrichten.
Das Enge-Erleben wiederum lässt sich am Beispiel des persönlichen Haftraums veranschaulichen, in dem auf etwa acht Quadratmetern Bett, Tisch, Stuhl und Regal sowie Waschbecken und Toilette untergebracht sind. Typische Zellentätigkeiten sind u.a. ›Rumhocken‹, Fernsehgucken, Briefe schreiben und Bodybuilding, etwa mit dem eigenen Körpergewicht oder gefüllten Wasserflaschen. Um eine uneingeschränkt private Zone handelt es sich bei der persönlichen Zelle nicht. Während sie in Zeiten des Einschlusses die Funktion eines Rückzugsorts annimmt, birgt sie zu Zeiten des Aufschlusses für den Inhaftierten zugleich die Gefahr der Drangsalierung durch andere Inhaftierte. Im Gegensatz zu den Gemeinschaftsräumen und Fluren, die vom Aufsichtspersonal eingesehen werden können, sind Zellen kleine Black Boxes. Diese räumliche Möglichkeit einer »Unsichtbarkeit der Akteure« macht den Haftraum zu einem bevorzugten Ort von Ereignissen, die nicht gesehen werden sollen, vor allem, wenn sie den geltenden Regeln der Institution zuwiderlaufen. Mit anderen Worten: Wer einem anderen Gewalt antun möchte, geht mit ihm in eine Zelle.
»Die Neuen«, so beschreibt es einer der Inhaftierten, »werden erst mal zur Seite genommen von ein, zwei Durchsetzungsstarken, werden in die Zelle genommen, [und] dann erzählt man denen, wie das hier läuft« [4]. Ein anderer wird konkret: »Wenn ich jetzt jemand totschlagen würde, das würde niemand mitbekommen. Man nimmt einen mit in die Zelle und fertig, Und man schlägt unsichtbar und dann fertig.« [5] Alle befragten Inhaftierten berichteten in einem breiten Spektrum von Selbstverortung und Beteiligung von ihren Drangsalierungserfahrungen. Alle haben entweder Gewalt erfahren, haben sie anderen zugefügt oder haben zu- oder weggeschaut, wenn anderen Gewalt angetan wurde. Sie berichteten u.a. von Ohrfeigen, Schlägen, Fesselungen, Unters-Bett-stecken, sexuell konnotierten Nötigungen verschiedener Art, davon, dass Inhaftierte gezwungen werden, für ihre Unterdrücker zu putzen, ihren Einkauf abzugeben oder zu deren Belustigung mit Bällen aus Kot zu jonglieren. Teilweise wurde über diese Gewalt-Ereignisse in einer Art von Selbstbehauptungsaussage gesprochen (Zitat »das lass ich mir nicht bieten«), dann aus einem erzieherischem Selbstverständnis (Zitat »ich musste ihn abhärten, deshalb habe ich ihm die Zigarette auf seinem Arm ausgedrückt«), teilweise aus einer Beobachterposition heraus und so indifferent, dass die eigene Beteiligung in der verwirrenden Wiederholung des immer gleichen Personalpronomens verschwindet. Zitat: »Wenn er sowieso schon weiß, dass er unter ihm ist, da geht der nicht hin und haut dem fünf Ohrfeigen und schlägt ihn noch mal und sagt dann, du machst sauber. [Erst,] wenn er dann nein sagt oder so, dann kann es noch dazu kommen. Aber meistens macht er das auch einfach, weil er weiß, wo er steht, dann braucht er ihn gar nicht erst beleidigen.« [6] Das Beziehungsgeflecht der Inhaftierten findet hier seinen Ausdruck in der abstrakten dritten Person Singular »er« und ist damit auf eine einzige Ebene reduziert. Die Dominanz der Nähe zeigt sich in der dauerhaften Möglichkeit des körperlichen Übergriffs von und gegen entpersonalisierte Beteiligte. Unterdrücker, Unterdrückter und der berichtende Beobachter werden austauschbar und unterliegen im Nähe-Gewalt-Gefüge somit einer fortschreitenden Ent-Subjektivierung. Zeitlich wie räumlich bestimmbare, handelnde Individuen verschmelzen in einem gemeinsamen Personal-Gefüge.
Wenn von einem Nähe-Gewalt-Gefüge die Rede ist, dann auch von seinem hermetisch geschlossenen Territorium, in dem Ressourcenknappheit, Ausweglosigkeit und soziale Enteignung erzwungen sind, und in dem gleichzeitig die beteiligten Personen ihr Begehren z.B. nach Ungleichheit äußern, entsprechende Handlungen entwickeln und diese – vor den Blicken Außenstehender verborgen – in die Praxis umsetzen. Dabei bilden Territorium und Begehren in der Analyse der Gefüge zentrale Begriffe. Gefüge sind, so Deleuze und Guattari »vor allem territorial«. Ein Gefüge befindet sich weniger auf einem Territorium, als dass es seine (eigene) Territorialität umschließt. Für Deleuze und Guattari sind Gefüge zudem in erster Linie Gefüge des Begehrens [7], oder anders gesagt: Wunsch-Gefüge. Sie sehen im Gefüge – anders als Michel Foucault in seiner Theorie der Mikrophysik– weniger Strategien der Macht am Werk als eine Wunsch-Maschine. Auch wenn der Binnenwelt der Inhaftierten wie jedem Nah-Raum ein Gewaltpotenzial zugeschrieben werden kann, ver-rückt die Gefüge-Analyse die Ereignisse – weg von der üblichen Ursachenforschung, hin auf mögliche und tatsächliche Veränderungsoptionen in den Beziehungen. Das Begehren versetzt das Gefüge in Bewegung. Es ist eben nicht statisch, es sucht nicht nach Kausalitäten, es ist ein Prozess, ein Strom, der dem Begehren folgt. Zur Veranschaulichung seien drei Gefüge aus den Aussagen von Inhaftierten der Jugendstrafvollzugsanstalt Hahnöfersand rekonstruiert.
Gefüge I, Annäherung/Abgrenzung. »Es ist schon vorteilhaft, wenn man sich ein bisschen besser kennt, untereinander, weil man da in gewissen Situationen vielleicht auch Rücksicht nehmen kann auf andere Menschen oder die halt auch auf mich dann. Das könnte dann vielleicht Stress vermeiden.« [8] Hier wird eine Differenz der Nähe eingeführt, die sich für den Jugendstrafvollzug insgesamt als relevant erwiesen hat: Der Inhaftierte formuliert den Wunsch nach Annäherung, was ebenso den Wunsch nach Abgrenzung impliziert, und unterscheidet ihn von dem Wunsch nach einer Regulierung der im Gefängnis räumlich verfassten Enge. Es geht um Distanzen, die objektiv in Metern gemessen werden könnten, faktisch aber z.B. in Einheiten von Respekt oder in der Schlüsselgewalt über Zellentüren. Mit seinem Begehren von gleichzeitiger Annäherung und Abgrenzung durchkreuzt der Inhaftierte das Nähe-Gewalt-Gefüge und versucht, ihm zu entfliehen. Er bewegt sich mit seinem Begehren auf dem, was Deleuze und Guattari Fluchtlinien nennen.
Gefüge II, un-/beteiligt. Auf die Frage, wie er auf unterschiedliche Drangsalierungen in seinem Umfeld reagiert, antwortete ein weiterer Inhaftierter: »Ich gehe einfach aus dem Weg oder ich bleib da, gucke mit, manchmal zu...« [9] Hier wird das Territorium eines Gefüges abgesteckt, in dem Wege, Blicke, Hindernisse, die Anwesenheit von etwas oder jemandem, das oder der gesehen werden kann, die Möglichkeit des Zusammenschlusses mit anderen und der Inhaftierte miteinander verbunden sind. Ebenso die Möglichkeit des Inhaftierten, zum Un-/Beteiligten zu werden, passiv sein und aktiv sein sind gleichermaßen Elemente des Gefüges. Es verfügt über ein offenes Richtungspotenzial und kann im Nähe-Gewalt-Gefüge sowohl stabilisierende wie destabilisierende Wirksamkeit entfalten.
Gefüge III, Mitmenschlichkeit. »Wenn einer neu kommt, die haben immer wenig und ich hab’ alles. [...] Da mache ich Essen, lade den ein, rede ’nen bisschen, ich stelle ihm ein paar Leute vor, weil ich ganz genau weiß, wie das ist, wenn man irgendwo neu kommt und keiner redet mit einem, alle gucken einen so an. Und dadurch kommt dieser Respekt. [Es] heißt dann immer gleich, wenn einer Respekt vor dem anderen hat, dann hat man gleich Angst...Und ich sag, ja, aber dieses Menschliche, die denken unter Gefangenen gibt es keine Menschlichkeit.« [10] In diesem Szenario (ich nenne es Mitmenschlichkeits-Gefüge) werden verschiedene Mangelsituationen verknüpft: der quantitative Mangel an Ressourcen wie Tabak oder Essen, der qualitative Mangel an Kommunikation und der Mangel an situativ-sozialer Sicherheit, einem Gefühl der Verlorenheit. - - - Zum Element des Gefüges wird auch die eigene Mangelsituation, die sich wiederum mit einem Gefühl der Hilflosigkeit verknüpft, die sich beim Auftauchen des Neuen erinnert. Auch der andere ist Teil dieses Begehrens-Gefüges, sowie ein äußerlicher Zuschreibungs- und Deutungsmodus von Angst. Auch die, von dem Inhaftierten nicht explizit angesprochene Gewalt ist kontextualisierend und bildet innerhalb des Gefüges eine Kraftlinie, aus der sich erste Machtstrukturen zu entwickeln beginnen. Tatsächlich gibt sich der Inhaftierte an anderer Stelle im Gespräch als erfolgreicher Unterdrücker zu erkennen.
In dem Ansatz, den Jugendstrafvollzug als ein Gefüge zu begreifen, sehe ich die Chance, sich in methodischer Hinsicht von dem bislang üblichen, rein retrospektiv-biografischen Erklärungsversuch von Gewaltkontexten unter Inhaftierten zu lösen und sie zum Beispiel nicht länger als vorrangig charakterlichen Input aufzufassen. (Im Jugendgerichtsgesetz ist bis heute die schädliche Neigung eines vor Gericht stehenden jungen Menschen einer der Gründe für die Bestrafung durch Freiheitsentzug.) Der Gefüge-Begriff schafft – nicht zuletzt durch seine zeitliche Dimension – eine neue Perspektive auf die Beziehungen unter den Inhaftierten im Jugendstrafvollzug im räumlichen wie im sozialen Sinn. Darüber hinaus geraten quasi-ästhetische Kräfte in den Blick, die in den Gefügen wirksam sind. Die Unterbrechung von Sichtachsen, Brüche und Widersprüche – all das sind Aspekte meiner Analyse. Auch wenn die Geschlossenheit und die partielle Unzugänglichkeit das Gefängnis zu einem klassischen Dunkelfeld machen, das sich den Blicken von außen zu entziehen versucht, hat die Gefüge-Analyse mit dieser Situation im Grunde kein Problem. Sie verknüpft auch das, was sich der Beobachtung entzieht, mit vielfältigen anderen Inhalts- und Aussage-Elementen und macht so soziale Fliehkräfte sichtbar. Darüber hinaus kann die Analyse der Begehrensstrukturen, die im Kontext eines Nähe-Gewalt-Gefüges im Gefängnis in den Aussagen der Inhaftierten u.a. als Fragen von Abgrenzung, Handlungsoptionen oder eigener Deutungsmächtigkeit auftauchen, dazu beitragen, den Gewaltbegriff neu zu kontextualisieren.
[1] Deleuze, Gilles/Guattari, Félix (1980/1992): Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie II. Berlin: Merve.
[2] Vgl. Sykes, Gresham M. (1958/2007): The Society of Captives. A Study of a Maximum Security Prison. Princeton, S.64.
[3] Einmal in der Woche kann im gefängniseigenen Laden eingekauft werden, jedem Inhaftierten, der im Vollzug arbeitet, steht dafür ein Monatsbudget von 154 Euro zur Verfügung. Stressbewältigung durch Alkohol oder Drogen findet nicht statt. Der Konsum von Tabak muss sorgsam ins Budget integriert werden.
[4] Alle Zitate stammen aus einer Befragung von Inhaftierten in der JVA Hahnöfersand/Hamburg. Bachmann/Schiller (2015), Transkript Interventionen im Jugendstrafvollzug. Hier: Int.2: S.24/4–5.
[5] Int.7: S.33/9–11.
[6] Int.5: S.34/8ff.
[7] »Gefüge«, so Deleuze und Guattari, »sind passionell, sie sind Kompositionen des Begehrens.« Deleuze, Gilles/Guattari, Félix (1992): Tausend Plateaus. Berlin: Merve, S.551.
[8] Int.1: S.8/18–21.
[9] Int.4: S.20/26.
[10] Int.5: S.32, Z.16–24.
Vortrag, gehalten in der Ad-hoc-Gruppe ›Ethnographien der Gewalt‹, 41.Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie »Polarisierte Welten«, Bielefeld, September 2022.