Die Frage der Ökologie ist keine Erfindung der Grünen, auch wenn sie 1983 mit diesem Thema als ›Antiparteienpartei‹ in den Bundestag einzogen. Im nächsten Jahr wird wieder ein neuer Bundestag gewählt, und Bündnis90/Die Grünen streben mit ihrem neuen Parteiprogramm nach dem diesbezüglichen Scheitern 2013 und 2017 erneut eine Regierungsbeteiligung an. Also lässt sich Bundesvorsitzender Robert Habeck schon mal in der Rolle eines designierten Vizekanzlers staatstragend in Szene setzen, etwa beim jüngsten Parteitag seiner Partei. Der fand an drei Tagen im November, eine Premiere: online statt – mit Live-Moderation direkt aus den in Berlin aufgebauten Kulissen hinauf auf die Computerbildschirme im Homeoffice der Bundesdelegierten.
Robert Habecks Auftritt im Berliner Tempodrom beginnt, wie es sich für seriöse TV-Formate gehört – mit einem Einspieler: Habeck in verschiedenen Einstellungen – er ist Arzt, Jude, Jugendlicher, hält meditativ Innenschau und fährt zur See. Er inspiziert Watt (Natur?) und Mega-Watt (Wirtschaft?). Zurück im Studio gestikuliert er auf ein nicht anwesendes Publikum hin und begrüßt seine virtuellen Zuschauer*innen in »diesem digitalen Raum, in dieser seltsamen Zeit«. Offensichtlich hat ihm niemand gesagt, dass der Raum, aus dem gestreamt wird, nicht digital ist. Das Tempodrom ist komplett analog. Wer hat ihm diese Texte geschrieben? Vielleicht dieselben Ghostwriter (m/w/d), die den Bundesgeschäftsführer Michael Kellner zu dem Satz »Wenn das Leben digital ist, muss auch die Politik digital sein« animierten? Und die die Mitvorsitzende Annalena Berbock sagen ließen: »Herzlich willkommen, liebe Freundinnen und Freunde, liebe Menschen an den Bildschirmen!«?
Der digitale Parteitag von Bündnis90/Die Grünen ging in einer Flut von Metaphern unter. Die Einsamen werden einsamer ... Die Menschen sterben allein ... Der Wind weht und wird schärfer ... Change the system not the climate … Wir rücken mit Abstand zusammen, sortieren uns neu, können viel schaffen, wenn wir nur anfangen ... Heute ist unser Sprungtuch in ein besseres Morgen ... Jetzt mal »würklich« alles anders machen! Das Grundsatzprogramm wird als ein »Angebot für Sie, für Dich, für uns alle« feilgeboten und das doublebindnahe Motto »Veränderung schafft Halt!« zum Super-Slogan. Während Habeck noch mantrahaft wiederholt, dass jede Zeit ihre Farbe habe und dass diese Zeit grün sei, fällt eben dieses Grün ins Auge: Ohne Zweifel handelt es sich bei der Farbwahl um das so genannte ›Krankenhausgrün‹. Der Kreis schließt sich: Während die Verantwortlichen vor den Kameras von Telepromptern ihre Texte ablesen und so der freien Rede huldigen, schließt das Grün als Teil der Corporate Identity die pandemische Situation, die den digitalen Parteitag erst möglich machte, in das Ereignis ein.
Bereits 1989 schreibt der französische Psychotherapeut Félix Guattari in seinem bis heute aktuellen Text »Die drei Ökologien« (im Original erschienen im Verlag Éditions Galilée): »Auf die ökologische Krise« werde es »nur in planetarischem Maßstab eine wirkliche Antwort geben, und nur dann, wenn sich eine authentische politische, soziale und kulturelle Revolution vollzieht, die die Ziele der Produktion materieller wie immaterieller Güter neu ausrichtet.« Félix Guattari geht es um eine »Neukomposition der sozialen und individuellen Praktiken«, die er in »drei sich ergänzende Rubriken« einteilt: »... die soziale Ökologie, die mentale Ökologie und die Umwelt-Ökologie, alle zusammen unter der ethisch-ästhetischen Ägide einer Ökosophie.«
»Mit Guattari«, so der Klappentext der deutschen Ausgabe (Passagen Verlag), »schreiten wir die Entdeckung ab, dass sich das Dasein des Menschen nicht nur auf die leiblich-materielle Sphäre beschränkt, sondern darüber hinaus eine soziale und eine mentale Ökologie zu pflegen wären: Der Organismus unserer Beziehungsformen zum Ich und zum Du bedarf selbst der Einsichtnahme, damit der Mensch, ohne sich in Machtspielen aufzureiben, zu einer ihm adäquaten Ordnung gelangt. Im Ineinandergreifen von Rhizom und Singularität ordnet der Autor die Möglichkeit der Partizipation nach drei Bereichen, die eine Nähe zu den Begriffen Leib, Seele und Geist aufweisen. Der aristotelisch-thomistischen Tradition entzieht sich Guattari dabei insofern, als er sie nicht in bloßen Abstraktionen durchkonjugiert, sondern in modern-diskursiver Weise aus dem Mitmenschlichen entwickelt.«
Neben Gerechtigkeit, Frieden, Demokratie und Selbstbestimmung taucht die Ökologie im neuen Grundsatzprogramm von Bündnis90/Die Grünen als einer von fünf Grundwerten auf. Doch die Stellung der Ökologie im neuen Wertekatalog scheint doch eher der eines Distanzhalters zu entsprechen und für den Wandel der einstigen ›Antiparteienpartei‹ hin zu einem ernst zu nehmenden Gesprächspartner für die Vertreter der Wirtschaft zu stehen – ›Prinzip trotzdem‹... Der potenzielle Koalitionspartner der nächsten Legislaturperiode, die CDU, jedenfalls folgt nun dem grünen Beispiel und wird seinen Bundesparteitag Mitte Januar ebenfalls digital ausrichten, wobei die Steigerung darin liegt, dass, eine Premiere: erstmals in der Geschichte der Partei sogar der Parteivorsitzende online gewählt werden wird. Potenziell grünen Wählern sei derweil die Lektüre von Guattaris Essay ans Herz gelegt, der mit 72 Seiten auskommt und dem das bedenkenswerte Zitat des Soziologen und Kybernetikers Gregory Bateson vorangestellt ist: »Es gibt eine Ökologie der schlechten Ideen, so wie es eine Ökologie des Unkrauts gibt.«