agoRadio, Sendung vom Oktober 2018, zusammen mit Benjamin Sprick
[=> 1. ›Land of Hope and Glory‹ – Last Night of the Proms 2009]
Sir Edward Elgars Komposition Land of Hope and Glory ist die heimliche National-Hymne Großbritanniens. Sie taucht im Trio des berühmten »March No. 1« aus Pomp and Circumstance auf, der immer dann gespielt wird, wenn es in England etwas zu feiern gibt. 1902 wurde die eingängige Melodie anlässlich der Krönung von Edward dem VII. durch einen patriotischen Text ergänzt, der bis heute zum Abschluss der Last Night of the Proms gesungen und live aus der Royal Albert Hall in den Londoner Hyde Park übertragen wird. Land of hope and Glory erzählt vor allem von Machtgewinn und territorialer Expansion: »Wider still and wider«, so heißt es im Originaltext, »Shall thy bounds be set; God, who made thee migthy, Make thee mightier yet.«
[=> 2. ›Land of Hope and Glory‹ – Korogocho 15.04.2018, Anfang]
Auch in Korogocho, einem Slum der kenianischen Hauptstadt Nairobi, wird Elgar gespielt. Die sogenannten Ghetto Classics – ein aus Spendengeldern finanziertes Musikprojekt – geben ein festliches Konzert. Auf einem 500 Quadratmeter großen Grundstück haben die jungen Musikerinnen und Musiker am Tag zuvor einen kleinen Park angelegt und gut hundert Bäume gepflanzt. Ein riesiger Violin-Schlüssel durchzieht als befestigter Weg das Gelände. Zur offiziellen Einweihungs-Zeremonie ist heute auch der ›British High Commissioner‹ gekommen, der höchste Vertreter des Commonwealth in Kenia. Er hat seine Geige dabei. Auch er pflanzt einen Baum und mischt sich dann mit seinem Instrument unter die jungen Musikerinnen und Musiker.
[=> 3. ›Land of Hope and Glory‹ – Korogocho 15.04.2018, Mitte]
Korogocho heißt in Suaheli, der kenianischen Landessprache, „Chaos“, „Durcheinander“ oder „Abfall“. Der Slum liegt mitten auf einer Müllhalde. Geschätzt 300.000 Menschen leben hier, neben, auf und von dem Müll, den die 3,5-Millionen-Metropole Nairobi jeden Tag produziert – in Krankenhäusern, Restaurants, Fabriken und privaten Haushalten. 1996 wurde die Deponie offiziell geschlossen, um seither illegal weiter zu wachsen. Jeden Tag kommen rund 2000 Tonnen neuer Abfall an. Eine apokalyptisch anmutende Szenerie zeichnet sich ab: Menschen durchsuchen im Qualm schwelender Feuer den Müll nach Recyclebarem und waschen im nahen Fluss Folien und Plastikflaschen, begleitet vom Lärm der Dieselmotoren und vom Geschrei aasfressender Vögel.
[=> 4. ›Land of Hope and Glory‹ –Korogocho 15.04.2018, Schluss]
Selbst für ein musikalisch ungeschultes Ohr klingt Land of Hope and Glory im Inferno von Korogocho irritierend. Etwas stimmt hier nicht. Man muss nicht in die Gesetze der Intonationslehre eingeführt sein, um ihre Verletzung zu bemerken. Dennoch gehen die Klänge nah, sie entlocken dem zum Klischee erstarrten ›Gassenhauer ‹unerwartete Resonanzen. Die britische Hymne scheint sich hier selbst zu dekonstruieren, sie wird von klanglichen Ir-regularitäten durchlaufen und rhythmisch konterkariert.In der Praxis der klassischen Musik westlicher Prägung spricht man von ›Unsauberkeit‹, wenn die Regeln der Intonation oder rhythmische Anweisungen nicht adäquat in die Tat umgesetzt werden. Diese Metaphorik bekommt auf der Müllkippe von Korogocho einen doppelten Boden. Von 1895 –1963 war Kenia britische Kolonie. Die jungen Musikerinnen und Musiker der Ghetto Classics bringen in gewisser Weise musikalisches Material zur Aufführung, das ihnen die ehemalige Besatzungsmacht hinterlassen hat. Welche Rolle im Umgang mit derartigen Restbeständen die intonatorischen ›Fehlleistungen‹ spielen, bleibt zunächst offen. Ebenso, ob hier eine hochkulturelle ›Mission‹ scheitert oder das Orchester das einst angelieferte musikalische Material ein-fach nur zerlegt, reinigt und neu zusammensetzt.
[=> 5. Proben in Korogocho]
Das überdachte Atrium, in dem das Konzert stattfindet, gehört zur katholischen Kirchengemeinde ›St. Johns‹, die in Korogocho auch eine Bücherei und eine Primary School betreibt. Daneben gibt es ein Fußballfeld mit großen Holztoren und ein paar Basketballkörbe. Um das Gelände herum verläuft ein Blechzaun, der vor Eindringlingen schützen soll. Im ersten Stock eines kleinen Nebengebäudes hat die Stiftung ›Art Of Music‹ für die jungen Musikerinnen und Musiker einen 15 Quadratmeter großen Raum angemietet. An einer Wand steht ein Klavier. In rostigen Metallschränken lagern Geigen, Trompeten, Posaunen und anderes sinfonisches Instrumentarium; daneben Berge von Noten. In einer Ecke stehen auf einem kleinen Schreibtisch ein Computer und ein Drucker. Durch die glaslosen Fenster zieht der Rauch von der Müllkippe herein und der Lärm vom Fußballtraining nebenan. Nach Schulschluss wimmelt es hier von Kindern. Sie holen sich ihre Instrumente aus den Blechschränken und verteilen sich überall auf dem Gelände, um zu üben. Der Canon von Johann Pachelbel, der in Deutschland mit Vorliebe in Weihnachtskonzerten erklingt, wird hier zur Begleitmusik für die Abfallsammler.
[=> 6. ›Canon‹ von Pachelbel]
Pachelbels harmonischen Sequenzen scheint im Slum jeder intonatorische Grund entzogen zu sein. Etwas gerät aus den Fugen. Zu tief oder zu hoch – das kann im klinischen Klangraum eines europäischen Konzertsaals das Publikum vergraulen. In Korogocho wird die vermeintliche Hochkultur hingegen minoritär verunreinigt. Es klingt eine unartikulierbare Frage nach dem Verhältnis von musikalischer Normierung und ästhetischer Disziplin an, die sich als ›Anspruch‹ in überkommene Hörgewohnheiten eingegraben hat. In diesem Sinne ist das Gehörte ›postkolonial‹. Es dekolonisiert nicht zuletzt die europäische Klanglandschaft, indem das Fortbestehen imperialistischer Strukturen in ihr selbst wahrnehmbar gemacht wird.
[=> 7. ›Land of Hope and Glory‹ – Aufnahme von 1931]