Es heißt, als der Gott Imana Ruanda erschuf, da schloss er es so ins Herz, dass er jede Nacht in dieses Land zurückkehrt, um dort zu schlafen.
1994 versank das afrikanische Land Ruanda im Wahn des Völkermords und schuf damit die Unglaublichkeit eines Ausnahmezustands, der ein ganzes Volk traumatisierte. Über eine Million Tutsi und gemäßigte Hutu wurden getötet. 20 Jahre nach dem Genozid versuchen die Menschen noch immer das scheinbar Unmögliche: sich zu versöhnen. Viele Frauen unter den Überlebenden blicken lieber in die Zukunft als zurück.
Sometimes in April – irgendwann im April, in irgend-einem April. Als sei der April nicht ein Monat sondern ein Ort. Sometimes in April ist der Titel eines Films, der eine Geschichte aus der Geschichte des schwarzafrikanischen Staats Ruanda erzählt. Die deutsche Übersetzung heißt: Als das Morden begann. Irgendwo, in einem April. Ruanda, das Land der tausend Hügel. Mitten in Afrika. Weit genug weg, dass Menschen in Europa, Amerika und Asien es nicht kennen müssen. Am 6. April 1994 kurz vor 21 Uhr begann in Kigali, der Hauptstadt Ruandas, was später als einer der erbarmunglosesten Genozide in die Geschichte der Welt eingehen sollte. Der ›einen Welt‹. Innerhalb von nur 100 Tagen wurden in Ruanda schätzungsweise eine Million Tutsi und gemäßigte Hutu von fanatisierten Hutu-Milizen getötet. Jeder einzelne starb durch die Hand eines anderen oder mehrere anderer – Nachbarn, Freunde, selbst Mitglieder der eigenen Familie wurden zu Mördern. Mit Hacken, Äxten und Macheten zogen sie morgens los, um zu morden. »Zur Arbeit«, sagten manche von ihnen. Und der andere Teil der ›einen Welt‹ sah weg.
20 Jahre nach dem Genozid. Kigali, Hauptstadt Ruandas. Cecilie ist glücklich. Am 21. Dezember 2013 heirateten sie und ihr Mann vor dem Altar der Presbyterianischen Kirche. Nichts wünscht sie sich jetzt sehnlicher für ihr Leben als eine Familie. Eine große Familie, zwei, drei Kinder, sagt die 26-Jährige, die Wirtschaft studiert hat. Am liebsten vier. Groß soll die Familie sein. So wie früher. Vor dem 6.April 1994. Cecilie war sechs Jahre alt, als sie ihre gesamte Familie verlor, weil in ihren Ausweisen Tutsi stand. Im Ausweis des Mannes, mit dem sie sich viele Kinder wünscht, stand Hutu. Doch auch er verlor den Großteil seiner Familie. Drei Brüder haben die Sommermonate des Jahres 1994 mit ihm überlebt, acht Geschwister und die Mutter wurden getötet. Der Vater tauchte erst nach 15 Jahren wieder auf. Er hatte im Nachbarstaat Tansania überlebt. Ruanda nach dem Völkermord ist komplex.
Nach dem Genozid ordnete der neue Präsident Paul Kagame, der frühere Anführer der Befreiungsarmee RPF (Ruandische Patriotische Front) an, dass Eintragungen wie Tutsi und Hutu aus den Personalausweisen gestrichen werden müssen. In den 30er Jahren hatten die belgischen Kolonialherren diese Eintragungen in den Personalausweisen eingeführt und die Einwohner Ruandas, die zweitausend Jahre lang als ein Volk mit einer Kultur und einer Sprache, dem Kinyarwanda, zusammengelebt hatten, damit rassisch getrennt. Imaginäre Ethnographie nannte das der französische Afrikanist und Anthropologe Claude Meillassoux. Doch noch 1994 galten aufgrund dieser fiktiven Einteilung 85 Prozent der Ruander als Hutu, 14 Prozent als Tutsi und ein Prozent als Twa, eine verschwindend kleine Gruppe von Ruandern, die vom Jagen und Sammeln lebt. Als der Genozid beginnt, haben es die Mörder leicht: Es reicht ein Blick in den Personalausweis, um zu wissen, wer eine der tausenden von Straßensperren überall im Land passieren darf und wer nicht. Wer als Tutsi identifiziert wird, wird getötet. Mancher zahlt dafür, nicht qualvoll durch Machetenhiebe zu sterben, einen makabren Preis: Erschossen zu werden statt hingeschlachtet kostet damals 32 US-Dollar.
Dreieinhalb Autobusstunden westlich von Kigali liegt die Stadt Gisenyi. Im Süden schmiegt sie sich an den Kivu See, im Westen an die Grenze zum Kongo. Rund um Gisenyi starben nicht nur in den 100 Tagen von 1994 noch mehr Menschen als andernorts. Die, die überlebten, lebten hier jahrelang außerdem in der Angst vor wiederbewaffneten Hutu-Milizen, die aus den Flüchtlingslagern im Kongo immer wieder nach Ruanda einfielen. Agnes ist 45. Sie wohnt in einer dieser typischen Lehmhütten in dem kleinen Dorf Gora nahe Gisenyi. Ihre vier Kinder wurden nach dem Genozid geboren. Ihr erster Mann fiel Hutu-Milizen aus dem Kongo zum Opfer. Sie sagt, dieses Töten überall – fighting for nothing! Lange hatte sie den anderen im Dorf nicht in die Augen schauen können, bestimmt fünf oder sechs Jahre. Versöhnung ist nicht wirklich vorrangiges Thema, wenn man seine Tage vor allem damit verbringt, für das Nötigste zum Überleben zu sorgen, das wenige Land, das einem zugeteilt ist, gut zu bestellen, damit immer genug zu essen da ist für die Familie. Neulich regnete es durchs Dach. Nachbarn halfen Agnes und deckten das Dach neu mit Blech. Agnes sagt, wir haben uns vergeben. Auf die Frage, ob sie nicht trotzdem oft traurig ist, antwortet der Himmel. Es donnert. Versöhnung – eine Frage von Zeit und Notwendigkeit. Viele hier sind Witwen, sagt Agnes, wir sind Freunde geworden, allein schaffst du es nicht.
Immaculata Gasengaire ist Mitarbeiterin der Deutschen Kindernothilfe und koordiniert landesweit Selbsthilfegruppen. Auch in Gora, dem Dorf, in dem Agnes lebt. Immaculata sagt, der schlimmste Feind der Versöhnung ist die Armut. Vielleicht hört man in den Antworten auf die Frage zum Zusammenleben nach dem Genozid deshalb so oft das kinyarwandische Wort Faranga. Geld. Der Kooperative im Dorf von Agnes gehören 20 Frauen an. Gemeinsam haben sie 97 Kinder, von denen die Älteren in die Dorfschule gehen, die ersten sechs Klassen, und wer es sich leisten kann, schickt seine Kinder danach auf die ›Secondary‹. Wie überall in Ruanda scheint jeder Quadratmeter, der nicht bebaut ist, bepflanzt zu sein, rund um die Häuser Hügelbeete. Gartenarbeit machen hier die Männer. Viele der Frauen der Kooperative sind Witwen, gemeinsam bewirtschaften sie die großen Felder außerhalb des Dorfes. Christine ist 48, hat fünf Kinder und ist so etwas wie die Sprecherin. Vor der Gründung der Kooperative 2008 hätten die Frauen im Dorf vereinzelt vor sich hingelebt, sagt sie. Jetzt bildeten sie eine starke Gruppe: »Wir haben gelernt, das Land zu bewirtschaften, Geld zu sparen, uns gegenseitig mit kleinen Krediten zu unterstützen. Wir können das Schulgeld für unsere Kinder bezahlen und sind unabhängig von unseren Männern.«
Der ökonomische Erfolg ist Teil einer Idee von Versöhnung, die will, »dass das nicht wieder passiert«. Und die Chancen, dass dieser Wunsch in Erfüllung geht, sind umso höher je weniger Armut es gibt im Land. Zusammenarbeit statt Separierung. Auf die Frage nach der Versöhnung zunächst Schweigen. Eine Frau im Kreis der 20 macht eine Handbewegung, die andeutet, das haben wir hinter uns. Dann steht Christine auf. »Auch wir hatten Angst darüber zu reden, was 1994 geschehen war«, sagt sie. 2006 wurden hier wie überall im Land die so genannten Gacacas wieder eingeführt – Dorfgerichte, vor denen es früher vor allem darum ging, Streitigkeiten zwischen Nachbarn zu schlichten. Was 1994 geschah, geschah unter Nachbarn, war aber weit entfernt davon, Streitigkeit zu sein: »Täter und Opfer – alle sollten freisprechen. Aber es kam von außen. In der Kooperative reden wir freiwillig miteinander.« Christine arbeitet auch im Versöhungskommitee auf Sektorebene, einer Art Verwaltungsbezirk innerhalb der Region. Es geht darum dafür zu sorgen, dass der Versöhnungsprozess weitergeht, obwohl die Gacacas wieder eigestellt wurden. »Reden ist Teil unserer Aufarbeitung«, sagt sie. Sie organisiert Treffen in den umliegenden Dörfern: mit Frauen, deren Männer als Mörder zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden, und mit Witwen von Opfern. Keine einfache Aufgabe. Zunächst wird mit beiden Gruppen getrennt gearbeitet. »Es dauerte drei Jahre bis zur ersten Begegnung«, sagt Christine, die für diese Arbeit eine zweimonatige Ausbildung absolvierte und hier vor Ort leistet, wofür jeder Coach in Deutschland den Hut ziehen würde. »Heute bringen Witwen von Opfern Tätern Essen ins Gefängnis, und Täterfamilien helfen Opferfamilien beim Hausbau.«
Nirgendwo in Ruanda findest du eine Gegend, in der nur Hutu oder Tutsi leben, sagt Immaculata, aber frag' nicht, wer was ist. Es klingt wie eine Warnung und ein bisschen nach „weil wir es waren, aber nicht mehr sind“. Oder nicht mehr sein wollen. Psychische Probleme, sagt sie, haben Hutu genauso in sich wie Tutsi. Sie glaubt an das ›Prinzip Selbsthilfegruppe‹. Während des Genozids lebte sie in Uganda, wie etwa eine Million anderer Ruander auch. Seit der Unabhängigkeit ihrer Heimat im Jahr 1962 hatte es immer wieder Progrome gegen Tutsi gegeben. Viele Familien flohen damals in das Nachbarland im Norden. In Gora arbeitet die Kindernothilfe mit dem African Evangelistic Enterprise zusammen. Regelmäßig besucht Immaculata, von Kigali aus die Kooperative. Sie kennt die Frauen, man spricht Kinyarwanda, lacht, tanzt, singt, auch für sie selbst ist das ein ›Training of Healing‹.
Vor dem Eingang zum Genozid-Memorial in Kigali begrüßen steinerne Elefanten rechts und links eines langgestreckten Wasserbeckens die Besucher. Elefanten, so sagt man, haben ein gutes Gedächtnis. An diesem Vormittag sind Arbeiter auf dem Vorplatz damit beschäftigt, eine Palme zu fällen. Einer der Arbeiter zerteilt den Stamm mit einer Machete. Man bereitet sich auf den 6. April 2014 vor, den 20. Jahrestag des Beginns des Völkermords. Wie jedes Jahr werden an diesem Tag zehntausende Ruander zum Memorial kommen, um der Toten zu gedenken. Etwas unterhalb des Museums liegen in großen Gräbern die Überreste von 250.000 Toten, die man aus Massengräbern überall im Land hierherbrachte. Nach dem Großteil der Opfer, die in den 100 Tagen des Genozids starben und irgendwo im Land verscharrt wurden, wird noch immer gesucht.
Wie aus Scham sprechen die Menschen hier manchmal von »War«, von Krieg, wenn es um 1994 geht. Es wirkt wie ein Selbstschutz, vielleicht, weil es so ungeheuer schwer fällt zurück zu schauen? Der Westen – Europa wie Amerika – hatte 1994 auch von Krieg gesprochen. Krieg unter verfeindeten Stämmen, nicht Völkermord – ein Terminus, der die Weltgemeinschaft zum Eingreifen gezwungen hätte. Der kanadische General Roméo Dallaire, damals Leiter der UN-Mission UNAMIR, die seit Oktober 1993 im Land war, um nach der Unterzeichnung des Friedensabkommens von Arusha (Tansania) den Friedensprozess und die Neubildung einer Regierung in Ruanda zu begleiten, wusste, dass das nicht stimmte. Und dass das, was sich da vor seinen Augen abspielte, nachdem das Flugzeug des ruandischen Präsidenten Juvénal Habyarimana, ein Hutu, am 6.April gegen 20.30 Uhr beim Landeanflug auf Kigali von Boden-Luft-Raketen abgeschossen worden war, kein Bürgerkrieg war, sondern geplanter Völkermord. Bereits eine Dreiviertelstunde später funktionierte die Tötungsmaschinerie an schnell errichteten Straßensperren in Kigali, zogen mordende Hutu-Trupps, so genannte Interahamwe, von Haus zu Haus. Im Januar 1994 hatte Roméo Dallaire ein Fax nach New York geschickt – darin die Aussagen eines Zeugen, dass extreme Hutu-Kräfte den Präsidenten töten werden und im Land einen Völkermord vorbereiten. Die Antwort aus dem Hauptquartier machte Dallaire zur tragischen Figur: Nicht eingreifen! Frieden sichern, nicht Frieden stiften, hieß die Mission. Am Morgen des 7. April waren bereits die ersten 7000 Tutsi ermordet. Es gab keinen Frieden mehr zu sichern.
Cecilie hatte sich am Vorabend noch gefreut, mit ins Memorial zu kommen. Am Morgen dann hatte sie abgewunken: „Ich schaffe das nicht.“ Nach dem Rundgang durch die Anlage ist die Palme zerkleinert und abtransportiert. Auch das Wasserbecken mit den Elefanten rechts und links, ist verschwunden. Bis zur Gedenkfeier im April wird der Vorplatz wohl saniert sein. Im Weggehen fallen mir noch einmal die Frauen von Gora ein. Sie alle glauben an Gott. An den Gott der Christen. Und an Imana? Niemand.