Mose teilte das Wasser des Roten Meeres und empfing von Gott zehn Gebote. Frau V. regelte auf einer vielbefahrenen Kreuzung den Verkehr und bekam von Gott den Generalschlüssel für die Welt. Mose wurde berühmt. Frau V. wurde abgeführt und kam in die geschlossene Abteilung der Psychiatrischen Klinik. Zwischen dem biblischen Helden und der manischen-depressiven Patientin gibt es trotz ihrer übereinstimmenden Behauptung, Gott begegnet zu sein, einen Unterschied. Frau V. hielt man für verrückt. Göttliche Erfahrungen werden – nicht in der Kirche, wohl aber im Kontext psychiatrischer Diagnostik – gern als grundlegendes Gestörtsein interpretiert. Frau V. verbrachte zehn Jahre in der Psychiatrie; sechs davon angebunden ans Bett.
Von den bis zu vier Millionen Menschen, die jährlich in Deutschland psychiatrische Hilfe in Anspruch nehmen, werden rund 400.000 stationär behandelt – am häufigsten wegen Schizophrenie (betrifft etwa 1% der Bevölkerung), wegen bipolarer, heißt manisch-depressiver Erkrankung (vier Millionen) und Depression (mehr als drei Millionen). 65 % der Betroffenen suchen keine Hilfe. Kein Wunder: Wer erst einmal »eingeliefert« war, hat bis heute mit Ausgrenzung zu rechnen, mit Nachbarn, die sich zurückziehen, überforderten Familienmitgliedern, mit Vorurteilen wie der Annahme, wer psychische Probleme hat, sei auch gewalttätig. Darüber hinaus empfinden viele Patienten den Aufenthalt in der Psychiatrie als entmündigend, wenn sie gegen den eigenen Willen Medikamente schlucken müssen oder – was selbst im Strafvollzug illegale Freiheitsberaubung wäre – manchmal tagelang am Bett festgebunden werden.
Herr Z. betritt den Raum. »Grüß Gott!« Der Pastor sagt: »Ach, Sie sind es.« Dr. Ronald Mundhenk, seit über 20 Jahren Seelsorger in der psychiatrischen Klinik in Heiligenhafen, lädt immer donnerstags zur offenen Kirche ein. Für gläubige Psychiatriepatienten ist seine Kirche ein sicherer Ort, er als Seelsorger ihnen und ihren Fragestellungen oft näher als der behandelnde Arzt. Das Lied »Danke für diesen guten Morgen« beginnt in D-Dur und soll mit jeder Strophe einen Halbton höher gesungen werden. Der Pastor spielt Gitarre. Er lässt das mit den Halbtönen. Veränderungen entstehen durch eigene Texte. Eine Frau singt: »Danke für die Schlaftabletten, die der Doktor mir verdoppelt hat.«
Als Kind hatte Frau V. an Ostern einmal einen Film über Jesus gesehen und seine leuchtend-blauen Augen bewundert. Sie hing auch schon mit ihm am Kreuz und spürte, was er gespürt haben muss. Wenn sie versuchte, den Ärzten davon zu erzählen, sagten die immer: »Sie sind wohl auf Droge.« Wenn psychische Erkrankungen etwas mit dem Leben zu tun haben, das man zuvor gelebt hat, dann liegt das bei Frau V. womöglich an der Arbeit in der Herbertstraße auf St.Pauli, Prostitution, Drogen. 1999 steigt sie aus, macht einen Entzug, ist anschließend sieben Monate clean, und erlebt dann einen Flashback als sei sie wieder drauf. Sie hört den Teufel sprechen, fällt in eine Welt voll von religiösen Vorstellungen. Als Gott ihr seinen Generalschlüssel für die Welt überlässt, geht es ihr für einen Moment richtig gut. »Ich konnte überall rein.« Die beiden Polizisten ahnen nicht, welch göttlich gesegnete Gestalt sie dabei sind, in Handschellen abzuführen. Frau V. kommt in die geschlossene Abteilung der Psychiatrischen Klinik. Die Diagnose: manisch-depressive Psychose. Sie bekommt Medikamente und fühlt sich ab da nur noch starr, leblos, trübe, tot. Jahrelang.
Wenn eine aus dem sechsten Stock eines Wohnhauses springt und überlebt, ist anzunehmen, dass im Leben danach einige Risse bleiben, die zusammengehalten sein wollen. Alefa, die eigentlich anders heißt, aber gern Alefa genannt werden möchte, war in der ersten großen Krise ihres Lebens 21 Jahre alt. Sie sagt, dass sie überlebt hat, sei dem Chirurgen zu verdanken, der sie zusammenflickte – und Gott. Als sie mit ihrem zweiten Kind schwanger ist, verlässt ihr Freund sie. In der Fußgängerzone ihrer Heimatstadt spielt sie vor dem Einkaufszentrum Gitarre und singt. Erst tut ihr das gut, dann nicht mehr. Sie kommt allein nicht mehr zurecht und in die psychiatrische Klinik. Inmitten der Krise, die ihr Leben bestimmt, sucht sie nach einem Sinn. In einer frei-christlichen Gemeinde belegt sie einen Glaubensgrundkurs. Sie bekommt ihr Kind und übergibt ihr eigenes Leben Jesus. Ihre beiden Kinder sieht sie selten. Statt von der eigenen Geschichte zu erzählen, formuliert sie eine Hoffnung: »Dass die beiden nie, vor allem nicht aus Unrecht, in die Psychiatrie müssen, dass Jesus sie bewahrt und schützt vor Mobbing und Verfolgung.« Im Klinikalltag belastet sie vor allem anderen die Abhängigkeit von ärztlichen Diagnosen. Dauernd diese Angst, abgestempelt zu werden. Sie will nicht wieder in die Geschlossene. In der ›offenen Kirche‹ sitzt Alefa neben dem Pastor und spielt Altblockflöte, wenn die anderen singen.
Herr S. möchte gern Esperanto genannt werden. Seit 15 Jahren ist er stationärer Psychiatriepatient, lebt in einer 11er-Wohngruppe auf dem Anstaltsgelände der Klinik. Im Juli 1996 rief Esperanto den Notarzt und antwortete dem auf die Frage, was mit ihm los sei: »Schreiben Sie: Psychose.« Er kannte den Zustand. 1979 hatte er schon einmal in der Psychiatrie Hilfe gesucht. Er hatte sich bei der Bahn für die gehobene Laufbahn entschieden, und war der Illusion aufgesessen, er könne Karriere machen und in seinem vertrauten Bahnhofsbüro bleiben. In der Stadt, in die man ihn schickte, kam er mit dem Leben nicht zurecht. Jetzt ist Esperanto Ende fünfzig und hat alle wichtigen Entscheidungen über sein Leben an Gott abgegeben. »Ich muss mir keine Gedanken mehr machen«, sagt er. Dabei macht er sich ständig Gedanken. So viele, dass er darin leben kann. Die Psychose hat darin genauso Platz wie Gott. Nur, dass Gott ihm als Begleiter lieber ist. Gutes tun mache Sinn, findet er. Seit er jede Woche 5 Euro für die Krankenhauskirche spendet, komme er auch besser mit seinen 140 Euro Taschengeld im Monat aus. Ob er noch Hoffnung hat? »Ja, dass das hier nicht ewig dauert«, sagt er, räumt aber gleich ein: »Aber solange ich noch Tabletten bekomme, bleibe ich.«
Die Geschichten, die psychisch kranke Menschen von Gott und Jesus erzählen, stehen so selten in der Bibel und verschaffen selbst Pastor Mundhenk oft noch neue Einsichten über den Glauben. Erich, der in seiner Wohngruppe ziemlich zu kämpfen hat, weil keiner seine Geschichten von Jesus mehr hören will, ist sich sicher, dass Jesus damals im Garten Getsemane, kurz bevor Judas ihn verriet, noch eine Schlange zertrat. »Das schafft nicht jeder«, sagt er und erklärt gleich noch das jüngste Gericht. Natürlich gehe es darum, dass Jesus kommt, um die Menschen zu richten. »Aber er gibt uns Liebe, er befreit uns.« Theologisch betrachtet sei das, wie Ronald Mundhenk zugibt, eine mutige Behauptung, wenn auch eine schöne.
Alle Menschen sind wahnfähig. Sie träumen, hoffen, geraten in Ekstase, sie lieben, sie verlieren sich in Trauer. Bei manchen sind, wie der Schweizer Psychologe C.G.Jung es einmal ausdrückte, nur die »Zwischenwände durchlässiger«, die zwischen Traum und Wirklichkeit. Auch die zwischen Wirklichkeit und Wahn. Paloma (sie nennt sich so nach der Friedenstaube) stürzt regelmäßig ab. Das erste Mal während ihrer Referendariatszeit Ende der 70er Jahre in Süddeutschland. Sie sagt, der Druck sei zu groß gewesen und niemand da, mit dem sie hätte reden können. Gläubig war sie schon vorher, aber in der Psychiatrie lernte sie Leute kennen, die ihr das Bibellesen beibrachten. Seitdem hält sie daran fest, täglich, und wenn nicht, dann guckt sie zumindest Bibel-TV. Ostern letztes Jahr war sie das letzte Mal in der Klinik. Ein Nachbar hatte sie bewusstlos in ihrer Wohnung gefunden. Danach musste sie Medikamente nehmen, von denen ihr jetzt die Haare ausfallen. Als sie noch in der Klinik war, im akuten Zustand, war sie überzeugt, Jesus gieße bei ihr zuhause die Blumen. Er wohnte ja nicht weit weg, was sehr praktisch war. Vor Jahren hatte sie sein Haus an der Uferpromenade entdeckt, auch einmal geklingelt, um die unberechtigten Bewohner aufzuklären: »Dieses Haus gehört Jesus Christus«, hatte sie gesagt, als man ihr öffnete. »Sie dürfen hier nicht wohnen.« Heute lacht sie mit, wenn sie davon erzählt, wie man halt über Anekdoten lacht. Dabei sind die Geschichten selten lustig, die sich in einem verhaken und dann in der Psychose nach oben dringen. Als Lehrerin jedenfalls konnte Paloma nie wirklich arbeiten. Heute gibt sie in dem kleinen Ort an der Ostsee, den sie sich nach dem Tod ihrer Mutter als Heimat ausgesucht hat, Kindern Nachhilfe. Die mögen ihre lustige Art. Dabei kann sie auch anders. Als ihr eine Betreuerin zugeteilt wurde, die sie selbst bezahlen sollte, klagte sie – und gewann. Wenn sie Hilfe braucht, betet sie.
Neuroleptika kappen die Gefühlsspitzen, dämmen zu hohe Euphorie und zu tiefe Traurigkeit ein. Seit Herr L. Sie bekommt, ist er nicht mehr Jesus, spürt nicht mehr das Kreuz, das seinen Körper formte. Aber er erinnert das Gefühl bis heute wie andere sich an ein erstes Verliebtsein erinnern. Ob er Menschen getroffen hat, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben? Er sagt: »Ja, in der Psychiatrie.« Seine Diagnose: Paranoid-halluzinatorische Schizophrenie. Es fing an, als es in seinem Kopf vor zwanzig Jahren knack machte. Später sagte ihm eine Stimme, er solle zu seinem Nachbarn gehen und mit ihm reden. Herr L. wollte keinen Streit. Später war sein Nachbar tot. Herr L bekam Sicherheitsverwahrung statt Gefängnisstrafe. Einige Jahre saß er in der Forensik. In der freikirchlichen Gemeinde dort am Ort ließ er sich taufen. Ob er seiner Mutter mal von seinen Gotteserfahrungen erzählt hat? »Nein«, sagt er. »Sie ist 85, das versteht sie nicht.«
Blue van Torf ist Mitte 50 und war auch in der Forensik, vier Jahre lang. Er hatte in Norddeutschland zwei Anschläge auf Beratungsstellen verübt, in denen ambulante Schwangerschafts-abbrüche vorgenommen wurden; weil er das für Sünde hielt. Katholisches Elternhaus, Stadtmission, freie Gemeinde, Pfingstler – irgendwie war Blue's Beziehung zu Gott immer schon von einer Suche nach Halt geprägt. Heute lebt er teilstationär in Heiligenhafen. Das Bild, das er mittlerweile selbst von sich hat, ist nicht mehr heroisch: »Inzwischen weiß ich, dass ich beten, fasten und demonstrieren kann, aber nicht gewalttägig sein darf.« In seiner Reue helfen mitunter kleine Hinweise. So wie die Anzeige, die er in der Zeitung gefunden hatte, als er wegen der Anschläge in Untersuchungshaft saß. »Hallo, du Teufelsgangster, ich liebe dich trotz allem! Deine alte Tante.« Er hat nie herausgefunden, ob wirklich seine Tante Berta die Anzeige für ihn aufgegeben hatte. Aber er fühlte sich besser, als seien seine Sünden ihm vergeben.
Hilft der Glaube gegen die Krankheit? Oder ist der Glaube Teil der Krankheit? »Was wir für die Krankheitsproduktion halten«, merkte schon Psychoanalytiker Sigmund Freud einmal an, »ist in Wirklichkeit der Heilungsversuch.« Die Grenzen sind fließend. Herr S. hat eine transpersonale Verbindung zu dem russischen Tänzer Vazlav Nijinski. Bis vor zwei Jahren habe er selbst getanzt, dazu die brasilianische Kampfkunst Capoeira und Taekwando geübt. Er arbeitete in der Küche einer großen Kantine, hatte ein soziales Umfeld. Für einen Mann mit Psychiatrie-Erfahrung eine ziemlich stabile Situation. Bis zu diesem, wie er sagt, »elemantaren Fehler.« Erst vergaß er, seine Neuroleptika zu nehmen, dann ließ er sie bewusst weg, weil es ihm plötzlich so gut ging. Er verlor seine Arbeit.
In seiner kleinen Wohnung hängen Bilder, die er gemalt hat. Motive aus dem Innenleben eines Menschen, der auf der Suche ist. Osho, Gott, Jesus, Hölle, Himmel, der Satan – Herr S. ist viel herumgekommen. Aus Poona, wo er gut zwei Jahre als Bhagwan-Anhänger lebte, kam er mit dem Gefühl zurück, er sei selbst Gott. »Ich war durchdrungen von göttlicher Energie.« Kurz darauf raubten ihm die Greuel des Dritten Reichs zwei Wochen lang den Schlaf. Er hat eine Vision von Jesus am Kreuz, der »aufersteht und anschließend in die absolute Hölle zurückmuss«. In der Psychiatrie bekam er die Diagnose, die auch Nijinski bekommen hatte: Schizophrenie. Er sagt: »Wenn Sie mit geistig-religiösen Phänomenen in der Psychiatrie auftauchen, haben Sie schon verloren.« Er war zuletzt dreieinhalb Jahre am Stück dort und rät zum Doppelleben. Besser schweigen. Er leidet: »Ich bin ein Visionär ohne Vision.« Er fragt: »Verstehen Sie?« Vielleicht meint er diese unerträgliche Situation, wenn Fähigkeit und Möglichkeit auseinanderfallen.
Dass man Menschen, die von sich selbst behaupten, eine besondere Gottesbeziehung zu haben, ausgerechnet in der Psychiatrie häufig trifft, wundert Pastor Dr. Ronald Mundhenk nicht. Über seine Erfahrungen mit Menschen, deren Glaube Teil ihrer Diagnose ist, hat der Theologe ein Buch geschrieben: »Sein wie Gott«. Er erlebt es oft, dass Menschen sich in der Krise stärker auf wesentliche Fragen konzentrieren. »Und manchen antwortet dann der Gott ihrer Kindheit.«