Tempelhof gilt als »die Mutter aller Flughäfen«, war schon in den 20er Jahren das erste Luftdrehkreuz der Welt. Seit der Luftbrücke, über die die Allierten Streitkräfte die Berliner Bevölkerung nach dem Krieg mit Lebensmitteln versorgten, ist der Flughafen ein Symbol der Freiheit. Nach 85 Jahren gehen dort jetzt die Lichter aus. Ein Nachruf...
Berlin und die Luftbrücke: 322 Tage dauerte die Blockade von Berlin. Keine Züge, kein Autoverkehr. Der Westteil der Stadt war auf Befehl der Sowjetunion elf Monate von der Außenwelt abgeschlossen. Vom 24. Juni 1948 bis zum 12. Mai 1949 mussten die Berliner deshalb mit allem, was sie zum Leben brauchten, über die Luft versorgt werden. Neben Lebensmitteln wurde auch Kohle zur Stromerzeugung eingeflogen. Bei etwa 280 000 Flügen kamen so insgesamt mehr als zwei Millionen Tonnen Fracht zusammen.
Flug 1562 nach Mannheim ist zum Einchecken bereit. Die Passagiere ziehen ihre Trolleys hinter sich her und gehen gemächlich auf den einzigen Ausgang in der Abflughalle zu. Ein bisschen Melancholie fliegt an diesem Vormittag mit. Denn viele der Fluggäste werden hier nicht wieder landen. Vom Flughafen Tempelhof startet am 30. Oktober das letzte Mal ein Flugzeug. Der älteste innerstädtische Flughafen der Welt wird abgewickelt. Die ›Mutter aller Flughäfen‹ macht dicht. Wo früher Fluggesellschaften ihre Büros hatten, säumen nun leere Räume die Abflughalle. Im ersten Stock sind die Glastüren zugehängt. Der Schriftzug »Restaurant« darüber ist nur noch Geschichte. Würstchen und Berliner Bier gibt's hier schon länger nicht mehr. Auch den Blick aufs Rollfeld nicht. Der wird von Milchglasfolien abgefangen.
Manche Orte sind nicht einfach nur Orte. Sie sind ein Symbol und stehen für mehr: Der Berliner Flughafen Tempelhof ist so ein Ort. Ende des 19. Jahrhunderts war das Tempelhofer Feld Paradeplatz fürs Militär und eine Art „Central Park" fürs Volk – mit Minigolf, Tennis und gelegentlichen Flugversuchen ehrgeiziger Visionäre. 1909 winkte Graf Zeppelin von seinem Luftschiff hinunter, 1922 schließlich wurde der Park zum Rollfeld planiert. Seitdem ist Tempelhof der Traum aller Flieger. Wer auch immer den Pilotenschein macht, will einmal hier landen. Erst recht seit dem 26. Juni 1948, dem ersten Tag der Luftbrücke. Eine Zeit, die eine ganze Generation von Berlinern nachdrücklich prägte. Tempelhof wurde zur Startbahn in die Freiheit, die Rosinenbomber zu Helden. Jede Douglas DC-3, die zwischen den Häusern zur Landung ansetzte, stand auch für den Trotz einer ganzen Stadt.
Eine Eigenschaft, die die Berliner bis heute besitzen. Im Büro der Interessengemeinschaft City Airport Tempelhof (ICAT e.V.), direkt in der Abflughalle, liegen Unterschriftenlisten aus, in die sich noch immer Menschen eintragen. Der Kampf um den Flughafen hört nicht auf. Eigentlich war er ja auch schon gewonnen. Beim Volksentscheid im April hatten 60 % für die Offenhaltung ihres Flughafens votiert. Weil aber insgesamt nicht ganz 25 % aller Einwohner mitgestimmt hatten, setzte sich der Senat über das Votum hinweg. Am 30. Oktober feiert Bürgermeister Klaus Wowereit mit 800 Gästen in Tempelhof.
Während die Passagiere nach Mannheim an diesem Vormittag in den Himmel über Berlin eintauchen, verschwinden Männer mit Klemmordnern unter dem Ann tuschelnd im Flughafenrestaurant. Ein bisschen wirken sie wie die ›Grauen Männer‹, die in dem Buch »Momo« den Menschen die Zeit stehlen. Wahrscheinlich sind sie mit den Vorbereitungen für die große Abschiedsparty beschäftigt. Die Menschen, die für den Erhalt des Flughafens kämpfen, treffen sich am 30. Oktober auch in Tempelhof. Allerdings draußen vor der Tür. Zu feiern haben sie nichts.
»Den Flughafen Tempelhof zu schließen ist ein Skandal«, sagt Heidrun Dietz. Sie sitzt im ICAT-Büro, dem Verein, der sich seit 1995 für den Erhalt des Flughafens einsetzt. Für die rothaarige Rentnerin ist Tempelhof ein Teil ihres Lebens . »Als ich vor 35 Jahren nach Berlin kam, war das Flughafengebäude so eine Art Kaserne für die amerikanischen Soldaten. Ich verdiente hier mein Geld mit Putzen. Was glauben Sie, ich kenne hier jeden Quadratmeter!« Ihre Leidenschaft für die Fliegerei entwickelte Heidrun Dietz schon Anfang der 60er Jahre. Da arbeitete die gebürtige Westfälin als Servicekraft im Offizierskasino auf dem Flughafen im schleswig-holsteinischen Uetersen. Ab und an durften sie und ihre Kolleginnen in einer der Bundeswehrmaschinen mitfliegen. »Damals war das ein Privileg«, sagt sie . »Wer konnte sich das Fliegen denn schon leisten?!« Auch wenn sie selbst nie einen Pilotenschein gemacht hat – infiziert ist sie seitdem allemal von der Fliegerei. Heute wohnt sie nur wenige hundert Meter vom Flughafen Tempelhof entfernt. »Ich konnte jahrelang quasi in Pantoffeln zu meiner Schwester nach Graz fliegen. Wo gibt's denn so was schon?« Sie gibt die Hoffnung nicht auf, dass Tempelhof den Berlinern doch noch erhalten bleibt. »Nach wie vor laufen Klagen, das Areal nicht zu entwidmen«, sagt sie. »Vielleicht retten wir die grüne Seele Berlins ja doch noch!«
Heidrun Dietz (68): »Ich gebe die Hoffnung noch nicht auf.«
Ihre erste Landung auf dem Flughafen Tempelhof hat die Journalistin Renate Bökenkamp aus St. Georgen bis heute nicht vergessen. Das Ticket war ein Geschenk ihres Mannes Manfred zu ihrem 23. Geburtstag. »Wir wohnten damals schon zwei Jahre im Schwarzwald, und unser zweiter Sohn war ein Jahr zuvor geboren.« Manfred Bökenkamp wusste: Seine junge Frau hatte vor allem eins – Heimweh nach Berlin. Denn für ihr gemeinsames Leben war sie 1966 aus Ostberlin ausgereist, mit ihm erst nach Braunschweig und dann in den Schwarzwald gezogen. »Also hatte er sich extra frei genommen, passte auf unsere Jungs auf, während ich ein paar Tage Berliner Luft schnuppern sollte.« Nach der Landung in Tempelhof stieg Renate Bökenkamp gleich vor dem Gebäude in den städtischen Omnibus, um zu Freunden zu fahren. »Na, Mädsche, och ma wieda in Balin?«, begrüßte sie der Busfahrer. »Dieser Tonfall! Da wusste ich, ich bin wieder zu Hause.« Seit diesem Tag verbindet Renate Bökenkamp den Flughafen Tempelhof mit dem Gefühl von Heimat. Ein-, zweimal im Jahr nutzte sie seitdem die schnelle Verbindung, um ihre Heimatstadt zu besuchen, aufzutanken – und mit einem Tagesvisum die Eltern im ostberliner Stadtteil Karlshorst zu sehen. Als ab 1975 die meisten Flüge über den Flughafen Berlin Tegel gingen, fuhr sie lieber mit der Bahn. Bis zum 5. August. Da stieg sie in die Cessna eines Bekannten aus St. Georgen und flog als Kopilotin von Schwenningen nach Tempelhof. »Das war mein ganz persönlicher letzter Flug nach Tempelhof.«
Renate Bökenkamp (64): »Tempelhof verbinde ich mit einem Gefühl von Heimat.«
Ende der 40er Jahre wohnte die damals 28-jährige Sekretärin mit ihrer Familie genau in der Einflugschneise des Flughafens Tempelhof. »Als Berlin über die Luftbrücke versorgt wurde, starteten und landeten die Flugzeuge der Alliierten im Minutentakt«, sagt sie. »Aber den Lärm hört man irgendwann nicht mehr. Man gewöhnt sich daran.« Als Ausgleich gab es im Jahr der Blockade ziemlich oft und viel Schokolade. »Allerdings habe ich mich selbst nie mit angestellt. Dafür bin ich nicht der Typ.« Außerdem waren sie und ihre Schwester ja den ganzen Tag über arbeiten gewesen. »Zu kaufen gab es damals nur, was auf unseren Lebensmittelkarten stand«, erinnert sie sich an Berlins härtestes Jahr so kurz nach dem Krieg. »Wäre meine Mutter nicht eine so gute Wirtschafterin gewesen, dann hätten die Rationen oft nicht gereicht.« Bis heute ist ihr klar: »Nur dank der Luftbrücke wurden wir in der Zeit überhaupt satt.« Deshalb versteht sie es auch nicht, dass der Berliner Senat den Flughafen Ende Oktober einfach schließen will. »Tempelhof ist ein Symbol für uns Berliner. Das kann man uns nicht einfach wegnehmen.« Nach einem Schlaganfall ist Margit Magnus, die mittlerweile in einem Seniorenstift nicht weit von den Hackeschen Höfen in Berlin Mitte wohnt, auf einen kleinen Gehwagen angewiesen. Trotzdem war sie sofort begeistert, dem berühmten Zentralflughafen Tempelhof noch einmal einen Besuch abzustatten. Lange saß sie da und schaute über den Vorplatz mit seinen Taxen. »Schade«, sagt sie. Nur: »Wirklich schade.«
Margit Magnus (88): »Für uns Berliner geht ein Symbol verloren.«
»Tempelhof ist wahrscheinlich der einzige Flughafen, in den neben den Fluggästen auch einfach mal Spaziergänger und Touristen kamen«, sagt Marina Piccolo, die gleich im Eingangsbereich ihre »Piccolo Bodega« hat, einen kleinen Airport-Shop mit Geschenkartikeln und Snacks. Am 31. Oktober packt sie ihre Sachen zusammen, gibt die geliehenen Kühltruhen zurück, die geleaste Kaffeemaschine auch. »Dann ist Schluss«, sagt sie und fügt hinzu: »Aber auch keinen Tag früher.« Die gelernte Köchin aus Ostberlin gibt nicht so schnell auf. Eine Eigenschaft, die sie ziemlich gut gebrauchen kann, denn ab 1. November ist sie arbeitslos. Und das mit zwei Jungs in der Ausbildung. Aber für die habe sie ja schon immer allein gesorgt. »Das Leben muss weitergehen«, sagt sie. Gleich nach der Wende hatte sie ihren ersten Kiosk eröffnet. Direkt am Checkpoint Charly an der Friedrichstraße. 1994 wurde dort luxussaniert, ihren Kiosk musste sie schließen. »Seitdem war ich in Tempelhof. Erst angestellt in einem Imbiss, dann seit zwei Jahren selbstständig.« In den vierzehn Jahren in Tempelhof schloss sie viele Freundschaften. »Die Menschen hier waren einfach immer entspannter als anderswo.« Auch sie hat nach dem anstrengenden Kampf um den Flughafen noch ein Fünkchen Hoffnung. Und wenn nicht, dann träumt sie wieder – von einem kleinen Bistro irgendwo in der Stadt.
Marina Piccolo (48): »Die Menschen sind hier einfach viel entspannter.«